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Keine Religion fällt vom Himmel

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Eine bessere Kenntnis der Entstehung der drei Weltreligionen, die ihre Wiege im Vorderen Orient haben, mag helfen, die jeweils andere Religion besser zu würdigen. Damit verbunden ist eine Sicht der eigenen Religion, die ebenfalls geschichtlich gewachsen ist. Der Kontakt miteinander unter den Religionen war (und ist!) im Vorderen Orient viel stärker und selbstverständlicher ausgeprägt als die bei uns im Westen gängige Praxis. Die Begegnung untereinander gilt im europäischen Kontext eher als ungewöhnlich. Im Nahen und Mittleren Osten ist sie nichts Außergewöhnliches.

„Umfangreiche Bestände an Inschriften und bildlichen Darstellungen aus diesem Raum befinden sich in öffentlichen und archäologischen Sammlungen. Somit ist es möglich, historische Zusammenhänge unter Verwendung der materiellen Zeugnisse zu rekonstruieren“97. Neben Berichten islamischer Historiker stehen zahlreiche andere Quellen zur Verfügung, wenn es um die Rekonstruktion historischer Verhältnisse in Syrien, Mesopotamien und auch auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert geht.

Eine solche historisch-kritische Betrachtung der frühen Islamgeschichte gerät in Konflikt mit der traditionellen islamischen Geschichtsdarstellung. Diese ist durch Nachschlagewerke und Bücher hinreichend bekannt. Daher geht es in diesem Buch darum, die relativ unbekannten Forschungsergebnisse der kritischen Islamwissenschaftler in den Kontext der klassischen Islamwissenschaft zu stellen. Und weil man es in diesem Zusammenhang und im Hinblick auf integrationspolitisch eher unruhige Zeiten nicht oft genug betonen kann: Leitend ist dabei kein apologetisches oder gar polemisches Interesse mit dem Ziel, eine Religion abzuwerten oder ihre heiligen Texte in Misskredit zu bringen. Jede Religion, ob Judentum, Christentum oder Islam, haben ihre Eigenständigkeit. Doch aus religionswissenschaftlicher Sicht bedeutet das, dass dennoch weitreichende Einflüsse von anderen Religionen bei der Entwicklung der jeweils eigenen Religion festzustellen sind. Es geht um den schlichten Hinweis, dass der Konsens unter muslimischen Gelehrten oder die Darstellung westlicher Islamwissenschaftler nicht gleichbedeutend ist mit der Anerkennung dieser Ausführungen als unzweifelbar historische Tatsachen. Die ersten Jahrhunderte des Islams erscheinen dadurch noch vielfältiger und noch stärker mit dem gemeinsamen Erbe im Großraum Syrien verbunden als bisher vielfach dargestellt. Ausgehend von einer historisch-kritischen Perspektive, die die vielfältigen Kontexte im Großraum Syrien zu berücksichtigen sucht, wird

1. deutlich werden, dass das arabisch-christliche Zentrum al-Ḥîra in Mesopotamien Ausgangspunkt einer arabischen Eroberungsbewegung gewesen ist, dass es

2. Gründe gibt, anzunehmen, dass die Auseinandersetzungen in der Omayyadenzeit ab Mitte des 7. bis Mitte des 8. Jahrhunderts innerchristlicher Natur waren und dass

3. die Omayyadenherrscher Mu‛âwiya und ‛Abd al-Malik eine arabisch-christliche Herrschaft im Großraum Syrien begründeten.

4. Als zentralen Aspekt zum Verstehen der verbindenden „Geisteshaltung“ zwischen den arabisch-christlichen Stämmen und der aramäischen Bevölkerung wird entfaltet, dass vor allem die Grundbekenntnisse der „Kirche des Ostens“, die in der „westlichen“ Theologie entweder vergessen oder als häretisch bezeichnet wurden, von großer Bedeutung für das Verständnis des Glaubens und der Herrschaft der arabischen Christen waren und

5. insbesondere ein vertieftes Verständnis dieses ostsyrischen Christentums zu einem Bindeglied zwischen Europa und der islamischen Welt werden kann.

6. Dabei ist es grundlegend, den Unterschied zwischen dem hellenistischen und dem aramäischen Denken aufzuzeigen, um einen wesentlichen anderen Zugang der „Kirche des Ostens“ zum Glauben an Jesus als den „Sohn Gottes“ und zur Trinitätslehre darzustellen. Die ostsyrische Christologie bekannte Jesus als den „Knecht Gottes“ (arabisch: „‛abd Allâh“), der durch die Kraft des Geistes Gottes als der „Sohn Gottes“ verstanden wurde. Durch das aramäische Denken geprägt, hat die „Kirche des Ostens“ daher

7. in der hellenistischen Weise der Darlegung der Christologie eine Gefahr gesehen für ein Verständnis von zwei Göttern (Gott Vater und Gott Sohn), was einer „Beigesellung“ Gottes und damit einer Verleugnung des Bekenntnisses zu dem einen Gott gleich gekommen wäre. Gegenüber den Versuchen des hellenistischen Denkens, das Wesen Gottes zu definieren (was bis heute das theologische Denken in der westlichen Welt beherrscht), wird das „Wie“ der Einheit Gottes als Geheimnis bewahrt. Die durch den Geist Gottes gedeutete Einheit von Jesus mit Gott wird damit bewusst nicht zum Gegenstand theologischer Spekulationen.

8. wird unter diesen geschichtlichen und theologischen Voraussetzungen verstehbar, dass und warum der Bau des Felsendoms in Jerusalem nicht das erste islamische Bauwerk war, sondern vielmehr ein „architektonischer Protest“ der arabischen Christen ostsyrischer Prägung gegenüber einer hellenisierten Christologie, die im „Westen“, im römisch-byzantinischen Reich, als staatstragend anerkannt war.

9. wird nachvollziehbar, welche revolutionäre Kraft die abbâsidische Bewegung hatte, die vom Ostiran her fast den ganzen Mittleren Osten erobern sollte und warum sich

10. aus einer eschatologischen Geisteshaltung eine apokalyptische Grundhaltung entwickelte, deren theologische Deutungsmuster die vorhandenen religiösen Überlieferungen in ein völlig neues Licht rücken sollten.

11. Neben dem jüdisch-rabbinischen Erbe und dem „vergessenen Erbe der Kirche des Ostens“ werden dabei viele andere Einflüsse (religiös-kulturelle, zoroastische bzw. parsistische und manichäische neben hellenistischen, arabischen und persischen Einflüssen) zur Sprache kommen, die die „arabische Religion“ geprägt haben, die wir heute als Islam kennen.

12. wird dargelegt, wie im Qur’ân durch seine formelhafte Sprache und durch seine entsprechend immer wiederkehrenden Deutungsmuster die im Großraum Syrien bekannten religiösen Überlieferungen einen neuen Interpretationsrahmen erhalten.

13. wird deutlich werden, dass diese neue Interpretation der religiösen Überlieferungen selbst einer Legitimierung durch einen „Erwählten“, arabisch: durch einen „muḥammad(un“), bedurfte und wie Muḥammad zum arabischen Propheten werden konnte.

14. wird schließlich in einem Ausblick vier Herausforderungen für die Religionen in heutiger Zeit nachgegangen, um sie fruchtbar zu machen für den christlich-islamischen Dialog: In welchem Geist können zukünftig Bibel und Qur’ân gelesen und ausgelegt werden? Es geht dabei um das Ziel, dass die heiligen Texte der Religionen dem Frieden und dem Dialog dienen und die in ihnen vorhandenen Ausgrenzungs-, Abgrenzungs- und Gewaltpotenziale überwunden werden.

Die kontextuelle sprachgeschichtliche, gesellschaftspolitische und religiös-kulturelle Spurensuche zielt insgesamt darauf, plausibel zu machen, dass sich nicht schon ab 622, sondern erst ab Mitte des 8. Jahrhunderts in der Zeit der Herrschaft der Abbâsiden in Bagdad der Islam als eigenständige „neue arabische Religion“ etabliert hat.

Religion fällt nicht vom Himmel

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