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„Judenchristliche“ Grundhaltung und das Judenchristentum
ОглавлениеUm dieses mittelöstliche Heidenchristentum besser verstehen zu können, ist es wichtig, sich darüber zu verständigen, wer ihnen gegenüberstehend mit den Judenchristen gemeint ist. Anschließend soll die „judenchristliche“ Grundhaltung und das „judenchristliche“ Denken beschrieben werden, was die Menschen im Großraum Syrien verbunden hat, ob sie denn ursprünglich Heiden (d.h. Nicht-Juden) oder Juden gewesen waren. Wichtig ist dabei, dass sich diese „judenchristliche“ Grundhaltung noch einmal von der Haltung der Juden unterschied, die Christen geworden waren. Dabei werden die Grenzen anfangs fließend gewesen sein.
Im Hinblick auf die Judenchristen ist die Quellenlage nicht einfach, denn die schriftlichen Zeugnisse sind größtenteils nur indirekt über die Kirchenväter erhalten. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Darstellungen der Kirchenväter nicht unbedingt das Selbstverständnis dieser Gruppen wiedergeben müssen, da sie gegen diese polemisierten.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Ausdruck „Judenchristen“ in der Literatur nicht einheitlich benutzt wird. Einerseits wird ein Jude, der Jesus als Messias bekennt, ein Judenchrist genannt, andererseits wird insbesondere in der deutschen Forschung diese Definition noch weiter inhaltlich stärker eingegrenzt: Ein Judenchrist ist danach einer, der von Geburt her Jude ist, sich zu Jesus als Messias bekennt und an der jüdischen Lebenspraxis, der Halacha, festhält101. Nach dieser zweiten Definition wäre Paulus kein Judenchrist gewesen, weil er sich nicht (mehr) an die jüdischen Ritualgesetze gehalten hat. Allerdings ist er von einer „judenchristlichen“ Grundhaltung durchdrungen. Um diesen wichtigen Unterschied soll es im Folgenden gehen.
Wer nun zu den judenchristlichen Gruppen zu zählen war, ist nicht immer klar und erschwert die Beantwortung der Frage, wie bedeutsam die Gruppe der Judenchristen im syrischen Raum wirklich gewesen ist. Anfangs wurden alle an Jesus als den Messias glaubenden Juden „Nazoräer“ genannt, hergeleitet vom „Mann aus Nazareth“, wie es Matthäus verstand (Mt. 2,23)102. Dem Leitungsgremium gehörten der Tradition nach die „drei Säulen“ Petrus und die Zebedäussöhne Jakobus und Johannes an. Aber diese Gruppe war nicht einheitlich. Die kulturellen und sprachlichen Unterschiede zwischen den aramäisch sprechenden Juden und den griechisch sprechenden Diasporajuden, den sogenannten „Hellenisten“, führten zu Problemen103. Die „Hellenisten“, deren Leiter Stephanus war, kamen nach der Apostelgeschichte (Apg. 8,1ff) in Konflikt mit dem Tempelkult und mussten Jerusalem verlassen, während die „Hebräer“ zunächst unbehelligt in der Stadt bleiben konnten.
Diese vertriebenen „Hellenisten“ gründeten daraufhin in Antiochien eine Gemeinde, der sich zum ersten Mal nachweislich auch Heiden, d.h. Nichtjuden, anschlossen, die dann schnell die Mehrheit bildeten. Eine erste gezielte Mission unter Nichtjuden kann von Antiochien aus angenommen werden104. Diese bisher nicht gekannte Situation führte zu einem neuen und brisanten Problem, das in das Apostelkonzil in Jerusalem im Jahr 44/48 mündete (Apg. 15,7–11). Zur Unterscheidung gegenüber anderen jüdischen Gruppen wurde diese aus Juden und Heiden gemischte Gemeinde „Christen“ genannt (im Sinne von „Christusleute“ bzw. mit dem aramäischen Ausdruck „Messiasleute“). Um der Klarheit willen sollte diese christliche Gemeinde in Antiochien nicht „Nazoräer“ genannt werden, da sie nicht identisch war mit der zahlenmäßig sehr kleinen ursprünglichen judenchristlichen Gruppe. Die Gemeinde von Antiochien war im engeren Sinne keine judenchristliche Gemeinde mehr, doch war sie durch das aramäische Denken „judenchristlich“ geprägt.
Die eigentlichen Judenchristen (nach der Definition der deutschen Forschung) waren die „Nazoräer“ oder „Ebioniten“ (eine genaue Unterscheidung ist nicht möglich105). Diese Urchristen bildeten eine besondere Gruppe im Rahmen des Judentums. Sie verstanden sich als endzeitliche Heilsgemeinde, die sich beauftragt sah, den Juden die Heilsbotschaft Christi zu verkündigen. Nach dem Niedergang der Jerusalemer Urgemeinde lebten vereinzelte Gruppen als Minderheit in kleinen Gemeinden über das Ostjordantal hinaus im Großraum Syrien und bis auf die arabische Halbinsel. Für diese judenchristlichen Gemeinden blieb ein wichtiges Kennzeichen, dass sie Jesus als Messias anerkannten, das alttestamentliche Gesetz beachteten und dabei auch am Ritualgesetz (Beschneidung) festhielten, ohne den Opferkult zu übernehmen106. Teilweise lebten sie in Distanz zu heidenchristlichen, d.h. mehrheitlich oder völlig nichtjüdischen christlichen Gemeinden, teilweise lebten sie auch aufgrund ihrer gemeinsamen „judenchristlichen“ Grundhaltung miteinander.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bezeichnung „Judenchristen“ steht für ein anfänglich durchaus plurales geschichtliches Phänomen, das schließlich streng genommen nur noch die Gruppe der „Nazoräer“ bezeichnen kann, die im Großraum Syrien von geringer geschichtlicher Bedeutung gewesen war107. Dass die ersten Erzählungen über Jesus von Menschen verbreitet wurden, die wie Jesus Juden waren, ist unstrittig. Es ist eine wesentliche Herausforderung besonders des Christentums westlicher Prägung, sich stets der palästinensischen Herkunft der Botschaft Jesu bewusst zu bleiben108 und Jesu jüdische Wurzeln nicht zu verleugnen. Entgegen der verbreiteten Meinung haben aber nur wenige Juden Jesus als Messias anerkannt109. Dass in den ersten Gemeinden die Anhänger des Evangeliums zumeist Judenchristen waren, ist daher eine Legende110.