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Spannungen zwischen Juden und Christen
ОглавлениеAn dieser Stelle wird vielfach nicht genau genug unterschieden zwischen dem Phänomen der Judenchristen als einer konkreten Form einer christlichen Gemeinde und einer „judenchristlichen“ Grundhaltung, d.h. einer vom aramäischen Denken geprägten Grundhaltung, die im Großraum Syrien weit verbreitet war – je weiter man nach Osten kam, desto stärker. Die „judenchristliche“ Art zu leben beruhte wesentlich auf einem durch die aramäische Kultur und Sprache geprägtes Welt- und Gottesverständnis. Aramäisch zu denken (was das bedeutet, wird weiter unten ausgeführt) ist nicht gleichzusetzen mit „Judenchrist zu sein“. Mit der „judenchristlichen“ Grundhaltung“ ist eine Geisteshaltung gemeint, die nicht unbedingt zur Bildung eigener Gemeinden geführt oder die Bindung an eine jüdische Gemeinde gefordert hat111.
D. h.: Auch wenn sich das Christentum zunächst auf das aramäischsprachige Judentum stützte, musste es sich gleichzeitig intensiv mit ihm auseinandersetzen. So sah z.B. der bedeutende syrische Kirchenlehrer Aphrahat, der zwischen 270 und 345 lebte, in den Juden seine Gegner112. Es ist bemerkenswert, dass er sich wohl auf das Alte Testament bezieht, aber gerade nicht auf die rabbinische Auslegungsweise. So wie Aphrahat kamen viele aus dem aramäisch denkenden Überlieferungskreis, ohne „Judenchristen“ zu sein.
Jüdische religiöse Ideen und auch Praktiken standen durchaus dem christlichen Denken entgegen. Der Gedanke, in aller Freiheit gesandt zu sein in die Welt, auch wenn dies Verfolgung mit sich bringen sollte, war mit einer jüdischen Sicht nach größerer Abgrenzung gegenüber der ihnen oft feindlich gesinnten Welt nicht vereinbar. Die alle Grenzen sprengende Auferstehung Jesu und die Entstehung der christlichen Heidenmission war dafür das deutlichste Zeichen113.
Noch nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 wird von einer „judenchristlichen“ Gemeinde in der Stadt berichtet114. Doch die Verbindung zum Judentum wurde immer brüchiger. Wurde im Christentum die Heidenmission vorherrschend, entwickelte sich das Judentum ohne den Tempelkult auf seinen eigenen Wegen weiter. Die wenigen Judenchristen, die „Ebioniten“ oder „Nazoräer“ genannt wurden und die Jesus als „rein menschlichen Messias“ bekannten, waren den meisten Christen wenig oder gar nicht bekannt und überlebten nur in ganz kleinen Enklaven, womöglich im persischen Raum115. Es ist daher nicht anzunehmen, dass sich erste christliche Gemeinden im Partherreich (in Persien) aus jüdischen Synagogengemeinden entwickelt hätten116. Wie Feldtkeller zeigen konnte, hatte die pluralistische Heidenmission mit ihrer Ausstrahlungskraft den größten Einfluss im Großraum Syrien ausüben können.
Nach dem Bar-Kochba-Aufstand im Jahre 135 durften nach dem Edikt des römischen Kaisers Hadrian keine Juden mehr in Jerusalem leben, die nun „Aelia Capitolina“ genannt wurde. Das bedeutete auch das Ende für die ursprüngliche judenchristliche Gemeinde, für die Nazoräer in Jerusalem117. Dieser Aufstand hatte für die eigentlichen „Judenchristen“ tragische Folgen, hatten sie sich doch als Juden, die an Jesus als Messias glaubten, der messianischen Bewegung unter Bar Kochba nicht angeschlossen, weil sie ihn für einen falschen Messias hielten. Sie gerieten somit zwischen die Fronten. Viele wurden entweder von den Römern als „Juden“ verfolgt oder als Deserteure von der jüdisch-messianischen Bewegung hingerichtet, was zur definitiven Trennung von Judentum und Judenchristentum führte.
Der Ausdruck „judenchristlich“ ist noch aus einem anderen Grund nicht einfach mit den Auffassungen der „Nazoräer“ oder „Ebioniten“ gleichzusetzen. Denn die Juden waren, wie das Beispiel der „Hellenisten“ unter Stephanus zeigt, vielfach hellenisiert. Der Ausdruck „jüdisch-christlich“ ist daher nur bedingt angemessen angesichts der Tatsache, dass viele Anhänger der jüdischen Religion auch Träger der hellenistischen Kultur gewesen sind. Zudem war es in Wirklichkeit anders herum: Angesprochen vom Christentum fühlten sich besonders Nichtjuden, also Heiden. Natürlich lassen sich im kulturellen und religiösen „Mix“ dieser Zeit jüdische Traditionen in der syrischen Sprache, in der aramäischen Kultur und somit besonders im ostsyrischen Christentum wiederfinden. Natürlich kannte auch der bedeutende syrische Kirchenvater Ephraem die jüdisch-rabbinische Auslegungsweise der Thora118 und das jüdische Bewusstsein des messianischen Gehalts der Heiligen Schrift und konnte sie bei Bedarf nutzen. Aber all diese Hinweise sollten insgesamt nicht dazu verleiten, von „judenchristlichen Gemeinden“ im Sinne des ebionitischen Denkens zu sprechen.
Auch die Tatsche, dass die Christen die hebräische Bibel als „Altes (!) Testament“ verstanden und diese Texte im christlichen Sinne interpretierten, führte sie mehr und mehr vom jüdischen Selbstverständnis weg: Das „Alte Testament“ galt vor allem als „Text der Vorbereitung“ und kam daher – außer den Exodusereignissen und den Psalmen – in der Liturgie nicht vor. Die jüdische Geschichte endete für die Kirche mit dem „Alten Testament“, da die Juden Jesus Christus zurückgewiesen hatten. Das Alte Testament wurde christlicherseits vielfach symbolisch auf Christus gedeutet, und was nicht in diesem Sinne gedeutet werden konnte, wurde oft gar nicht erst interpretiert119. Es greift damit zu kurz, wenn im Islam ein „ebionitisches Christentum“ oder ein „vornicaenisches Christentum“ wiederentdeckt wird, wie es im westlich geprägten christlich-muslimischen Dialog immer wieder geschieht.