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Aramäisches Denken in der „Kirche des Ostens“
ОглавлениеDass in der Forschung diese Meinung vertreten wurde und wird (vgl. Ohlig, Schoeps, Nevo/ Koren u.a.), hängt damit zusammen, dass das aramäische Denken das gemeinsame Erbe von Juden und Christen im Großraum Syrien bildete. Den Großraum Syrien wie auch die arabische Halbinsel darf man sich nicht als „geschlossene Gesellschaften“ vorstellen. Die Auseinandersetzung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgruppen spielte sich in einem offenen kulturellen, sozialen und religiösen Umfeld ab120. Wechselseitige Informationen waren nicht zufällig gewonnen, sondern der rege Austausch durch das alltägliche Leben führte dazu, dass man sich kannte und auch wusste, was der andere glaubte. Zu einer „Ghettoisierung“121 einer Glaubensgemeinschaft ist es im Großraum Syrien und auf der arabischen Halbinsel nicht gekommen, insbesondere aufgrund der gemeinsamen aramäischen Sprache.
Mit dem aramäischen Denken teilten Juden wie Christen eine bestimmte Sicht auf die Welt und besonders auf das Gottesverständnis. Die Betonung des vollen Menschseins Jesu hatte sie verbunden. In diesem Sinn spürten die Christen die enge Verwandtschaft zum Judentum. Innerhalb der „Volksfrömmigkeit“ war es für den „normalen Syrer“ kaum möglich, zwischen Judentum und Christentum zu unterscheiden122, denn die oben beschriebene „judenchristliche“ Grundhaltung war unter den aramäisch sprechenden und denkenden Christen gegenwärtig.
Vier Aspekte dieses aramäischen Denkens, dieser „judenchristliche Grundhaltung“ als einer Geisteshaltung, sollen hier angesprochen werden, weil dieses Denken das Welt- und Gottesverständnis des ostsyrischen Christentums, der „Kirche des Ostens“, stark beeinflusst hat.
1. Der bewusste Bezug zum Alten Testament: In der ostsyrischen Kirche ist die Bedeutung Israels als ersterwähltes, priesterliches Volk, als das Volk unter den Völkern, ausgeprägt123. Die in den liturgischen Texten immer wieder vorkommende Anrede („Bei dir, Gott Abrahams und Isaaks und Israels, dem ruhmreichen König“) rief die Ereignisse des Exodus, des Auszugs des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten in Erinnerung.
Dieser Exodus galt als heilsstiftendes Ereignis, das man sich durch die Anrufung an den Gott, der sich Mose offenbart hat (2. Mose 3,14f), ins Gedächtnis rief. Dadurch rückt zum Beispiel das ostsyrische Eucharistiegebet der syrischen Heiligen Addai und Mari (aus dem 3. Jahrhundert) in die Nähe des jüdischen Morgengebetes, in dem der Exodus eine tragende Rolle spielt.
In diesen Zusammenhang gehört auch der besondere Umgang mit der Heiligen Schrift selbst. Das westliche Christentum verständigte sich im römisch-byzantinischen Herrschaftsbereich im Verlauf des 3. Jahrhunderts auf einen einheitlichen Kanon der Schriften124. In der „Kirche des Ostens“ war dagegen eine interpretierende Paraphrasierung der heiligen Texte durch die Peschitta im Gebrauch – ganz im Sinne des Targum und der jüdischer Midraschim, der jüdischen Auslegung des Alten Testaments.
2. Einfluss jüdisch-apokalyptischer Schriften125: Mit diesen Schriften musste sich die „Kirche des Ostens“ auseinandersetzen. Auf der einen Seite konnte Jesus Christus als der endzeitliche Richter verstanden werden. Der Gedanke, dass Gott einen festen Plan für das endzeitliche Geschehen hat, führte zu einer tendenziell apokalyptischen Grundhaltung. So wurde den Gläubigen der ganze „sakrale Kosmos“ mit seinen guten und bösen Geistern enthüllt und sie aufgerufen, sich in der noch zur Verfügung stehenden Zeit zu bewähren. Durch die politischen Wirren und die damit einhergehenden Verfolgungen und Unterdrückungen wurde diese Grundhaltung noch verstärkt. Auf dem Hintergrund der „Ermahnung, sich im Alltag zu bewähren“ ist auch verständlich, warum das syrische Christentum weitgehend asketisch bestimmt war und seine spirituelle Kraft aus den Klöstern, von den Einsiedlern und „Wüstenheiligen“ bezog, die in der Einsamkeit ohne Besitz und in einfachsten Verhältnissen ein Zeugnis für Gott gaben. An dieser Stelle trafen sich auch apokalyptisches mit christlichem Gedankengut, wobei es in der Praxis für die „Volksfrömmigkeit“ nahezu unmöglich war, beide zu unterscheiden.
3. Einfluss in Fragen der Lebenshaltung: Schließlich ist auch ein indirekter Einfluss des Judentums in Fragen der Moral und des Kultus auf die Christen im Großraum Syrien spürbar126. In Fragen der Liturgie, der Katechese und auch im Verständnis der Askese nahm die Didache eine zentrale Stellung ein127. Die Didache ist eine aramäisch geschriebene Gemeindeordnung aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, die Lehrstücke, Vorschriften und Gebete enthält. Tatsächlich wurden eben diese Christen aufgrund ihrer geistigen Grundhaltung von ihren Gegnern nicht nur als „Nestorianer“ beschimpft128, sondern vor allem immer wieder als „jüdisch“ bezeichnet129.
4. Unterschiedliches Wahrheitsverständnis: Vor allem aber ist auf den grundsätzlich wichtigen Unterschied zwischen hellenistischem und aramäischem (hebräischem) Denken, zwischen westlichem und semitischem Kulturkreis aufmerksam zu machen130. Diese Unterscheidung ist besonders hinsichtlich des Denkens über Gott und die Gottessohnschaft Jesu von Bedeutung. Das biblische Wahrheitsverständnis ist eng verbunden mit der hebräischen Wurzel „’mn“; was die Grundbedeutung von „fest, zuverlässig, tragfähig sein“ hat. „’ämûnâh“ (von diesem hebräischen Wort leitet sich das uns bekannte Wort „Amen“ ab) bezeichnet nicht einen abstrakten Sachverhalt, sondern ein menschliches oder göttliches Verhalten gegenüber anderen, ist also ein Beziehungsbegriff. Er beschreibt die Erfahrung und Bedeutung im Sinne von Zuverlässigkeit und Treue.
Mit anderen Worten: Das aramäische bzw. hebräische Denken ist nicht abstrakt wie das hellenistische Denken interessiert am „An-und-für-sich-Sein“ von irgendwem, auch nicht von Gott. Statt sich über „Gottes Sein an sich“ Gedanken zu machen, steht Gottes Wirken und seine Funktion „für die Menschen“ im Mittelpunkt des Denkens. Die Wahrheit geschieht, ereignet sich sozusagen in der Begegnung. Anders als das hellenistische Denken folgt man im semitischen Kulturkreis nicht statisch-ontologischen bzw. naturhaft-ontologischen Fragestellungen, sondern relational-existentiellen. Die hellenistische erkenntnistheoretische Frage: „Was ist Wahrheit?“ wird relational-existentiell gefasst: „Wie geschieht Wahrheit?“
In der Beziehung bewahrheitet es sich, ob der andere verlässlich ist: Auch das ist eine ontologische, d.h. das Sein betreffende Aussage. Aber es geht nicht um das Sein „an und für sich“, sondern um eine Seinsweise, d.h. um eine existentielle Bestimmung, die geschichtliche Existenz und das eigene Leben betreffend. Es geht um die Beziehung zu Gott. Jesus Christus ist der „Sohn Gottes“, weil er sich in den Begegnungen mit den Menschen bewahrheitet bzw. bewährt hat. Eine Christologie der „Kirche des Ostens“ wird von diesem Hintergrund aus eher funktional denn ontologisch-statisch gefärbt sein131. Sie ist mehr interessiert an den Werken der Offenbarung in der Geschichte und dem Erweis der Macht und Wahrheit Gottes bzw. Jesu Christi als an abstrakten, zeit- und geschichtslosen Seinsaussagen über Christus selbst132.
Dass man in der „Kirche des Ostens“ einem naturhaft-ontologischen Gottesverständnis nicht folgen konnte, zeigt, wie groß die Bedeutung dieser hebräisch-aramäischen Wurzeln trotz allen hellenistischen Einflüssen war. Weil aber die Unterschiede zwischen Juden und Christen auf dem ersten Blick nicht so erkennbar waren, darf man sich auch über die Teilnahme des jeweils einen am Gottesdienst und Kult des jeweils anderen nicht wundern. Rosenkranz fasst wie folgt zusammen: „Die Synoden der ostsyrischen Kirche am Ende des 6. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts verbieten Christen die Teilnahme an jüdischen Festen, den Kauf jüdischen Weins sowie gesellschaftlichen Verkehr mit Juden. Solche ständig wiederholten Gesetze weisen darauf hin, dass sie nicht eingehalten wurden. Außerdem scheint es Ende des 6. Jahrhunderts zu vielen Konversionen von Juden zum Christentum gekommen zu sein“133.
Zudem gab es auch judaisierende Tendenzen bei Christen, die z.B. am Pessachfest ungesäuerte Brote in die Synagogen brachten134. Auch der große syrische Kirchenvater Ephraem sah sich herausgefordert, in seinen Hymnen die Beziehung und die Trennung zum Judentum zu verdeutlichen. Er nahm wohl die Ursprünge des christlichen Glaubens im Judentum ernst, wies aber die Gläubigen darauf hin, sich aus theologischen Gründen deutlicher vom Judentum abzugrenzen, was als Aufforderung nur Sinn machte, wenn diese Abgrenzungen nicht vollzogen worden sind. So führte Ephraem aus, dass Christus selbst die jüdische Religion erfülle und aufhebe. Christus sei wohl der König, Prophet und Priester und vervollständige und erläutere die jüdische Schrift (Hymnus 8, Str. 1–8), zugleich aber beende er die jüdischen Gebräuche (Str. 9–11)135.
Waren die wechselseitigen Beeinflussungen auf diese Weise hoch, waren auch die Reibungen untereinander intensiver als zwischen anderen Religionsgruppen. Heftige Polemiken sind von Juden gegen Christen und von Christen gegen Juden136 überliefert. Erst in der Abbâsidenzeit am Ende des 8. Jahrhunderts nahm das Interesse aneinander ab. Zum einen, weil die Juden die Arabisierung der Christen nicht mitvollzogen, zum anderen, weil die in dieser Zeit zunehmende politische und religiöse Unterdrückung für beide ein äußerst hartes Los gewesen war, mit dem sie ausreichend beschäftigt waren.
Die auf den ersten Blick große Nähe zwischen eigentlichen „Judenchristen“ (ebionitisches Erbe) und einer „judenchristlichen“ Grundhaltung aufgrund des aramäischen Denkens hat insbesondere in der westlichen Theologie dazu geführt, hier nicht genau genug zu unterscheiden. So war (und ist) man geneigt, der „Kirche des Ostens“ eine adoptianische Theologie zu unterstellen. Doch die syrische Christologie ist trotz aller „judenchristlichen“ Hintergründe eine Christologie „von oben“137, die stark mit dem Gedanken an einen präexistenten Repräsentanten Gottes verbunden war138.
Für die „Volksfrömmigkeit“ eines „normalen Syrers“ jener Zeit mögen die Unterscheidungen wie gewisse theologische Spitzfindigkeiten gewirkt haben. In der Lebenspraxis haben die Menschen diese theologischen Unterschiede nicht besonders wahrgenommen. Ob jemand Jesus nachfolgte, um das Heil zu erlangen oder ob er oder sie Jesus nachfolgte, weil ihm oder ihr das Heil geschenkt worden ist – in beiden Fällen richtete sich der Lebenswandel nach Christus aus, was in dieser Zeit häufig mit einem asketischen Lebensstil verbunden war.
Allerdings machen die Motivation und die Begründung theologisch wie existentiell den entscheidenden Unterschied aus. Handelt der Mensch aus der Gewissheit, durch/mit Christus und mit/durch seine Taufe bereits im Paradies zu sein, da sich Gott in seiner souveränen Freiheit für ihn entschieden hat? Oder handelt der Mensch, um sich auf die Aufnahme ins Paradies vorzubereiten, ohne wirklich gewiss sein zu können, aufgenommen zu werden, weil alles an Gottes souveränem Urteil über des Menschen Taten hängt?
Diese Haltung wird bei späteren innerchristlichen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Jesus Christus als „Sohn Gottes“ zu Gott, dem Vater, eine herausragende Rolle spielen. Dieser Streit wird vor allem politisch (und d.h. damals: militärisch) ausgetragen werden zwischen dem römisch-byzantinischen Reich und seinem westlich-hellenistischen Denken und den arabisch-christlichen Bewegungen und ihren Vorstellungen von Jesus, die vom aramäischen Denken (aber nicht wie fälschlicherweise im Westen angenommen wurde vom arianischen Denken) her geprägt waren.