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Neue Perspektiven für den Dialog

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Der Blick auf das gemeinsame geistige Erbe: Für den christlich-muslimischen Dialog eröffnet eine solche religionswissenschaftliche und historisch-kritische Betrachtungsweise neue Perspektiven. Die hebräische Bibel, das Neue Testament sowie der Qur’ân sind keine „vom Himmel gefallenen Texte“, sondern sind als heilige Bücher im Laufe der Jahrhunderte Schritt für Schritt gewachsen. D. h.: Der Qur’ân selbst ist das beste Beispiel für eine interreligiöse und interkulturelle Geschichte – wie die anderen heiligen Texte (Thora und Evangelien) auch.

Es versteht sich von selbst, dass in einem solchen Lebensraum, in dem das geistige Erbe so dicht zusammenlag, wechselseitige Beeinflussungen die Regel waren. Das bedeutet, dass immer wieder die Tendenz zur Abgrenzung gegenüber dem anderen spürbar war – gerade weil man um das gemeinsame geistige Erbe wusste. Jede der Religionen musste ja ihre Identität erst suchen in der Auseinandersetzung mit den sie umgebenden Strömungen und Glaubensrichtungen. Wie den christlichen Konfessionen keine vorgegebenen Identitäten in die Wiege gelegt war, sondern sich diese erst in der Abgrenzung vor allem zum Judentum und durch innerchristliche Auseinandersetzungen gebildet haben, ist auch der Islam als eigenständige Religion ohne Auseinandersetzung mit Judentum, Christentum und den anderen religiösen Strömungen jener Zeit nicht zu denken.

Was die christliche Theologie seit dem letzten Jahrhundert mühevoll zu lernen hat (und noch immer lernt), ist für die islamische Tradition im gewissen Sinn Neuland. Die Erkenntnis, dass das gemeinsame Erbe der drei monotheistischen Religionen viel mehr Gemeinsames aufweist als es üblicherweise wahrgenommen wird. Traditionelles islamisches Selbstverständnis geht davon aus, dass die Zeit vor Muḥammad eine „Zeit der Unwissenheit“ bzw. „Zeit der Ignoranz“ (arabisch: „ğâhiliyya“) gewesen sei. Diese vorislamische „dunkle“ Zeit wurde so zur Negativfolie, von der sich der Islam umso strahlender abheben konnte90. War die Zeit vor Muḥammad – bezogen auf die Offenbarung im Qur’ân – eine „Zeit der Unwissenheit“, eine „Periode der moralischen Verworfenheit und religiösen Zwietracht“, konnte der Prophet Muḥammad von diesem Ausgangspunkt her die Botschaft eines absoluten Monotheismus und einer kompromisslosen Moral „wie eine Morgendämmerung“ ganz neu predigen.

Es wird dabei in der islamischen Tradition nicht bestritten, dass Muḥammad Kontakte zu Juden wie zu Christen hatte, aber keine Art der Abhängigkeit wird akzeptiert. In anderen Worten: Die Offenbarung kam zu Muḥammad direkt, nicht durch die vorherigen Schriften oder Religionen, sondern parallel zu ihnen91. Die islamische Geschichtsschreibung bediente sich dieser Argumentation, um die Überlegenheit der eigenen Religion herauszustellen. Aber Religionen entstehen nicht im Vakuum92. So ist es unzweifelhaft, dass die islamische Bewegung ihre Ursprünge in der multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft zu jener Zeit hat und ihr nicht so scharf entgegengesetzt werden kann.

Was für Judentum und Christentum in der religionsgeschichtlichen Perspektive gilt, darf so mit allem Respekt auch für die Entwicklung des Islams hin zu einer eigenständigen Religion angenommen werden: Sie ist ebenfalls nicht „vom Himmel gefallen“. Die Spurensuche nach dem gemeinsamen geistigen Erbe kann so zu einem Beitrag werden, den Dialog der Religionen mit Hilfe der historisch-kritischen Sichtweise auf eine neue Art zu fördern. Es geht um ein besseres Verstehen der religiösen und kulturellen Geschichte des Vorderen Orients, um die eigene Glaubensüberzeugung im Dialog mit den anderen Religionen noch besser verantworten und einordnen zu können. So kann jeder seine eigene Glaubensüberzeugung bewahren jenseits von Ängsten und Abwertungsversuchen gegenüber dem anderen.

Dieses Buch lädt ein zu einer spannenden Reise, wie aus jüdischen, christlichen, parsischen, gnostischen und manichäischen Ursprüngen eine eigenständige arabische Religion erwächst, die wir heute als Islam kennen. Identität wird ja nicht in ihrer ursprünglichsten Fassung quasi „von oben“ vorgegeben, sondern jedem und damit auch jeder Religionsgemeinschaft ist die Suche nach dem eigenen Selbstverständnis und der eigenen Identität stets neu und zu jeder Zeit als Verantwortung aufgegeben. Das bleibt eine Herausforderung gerade in einer Zeit, in der sich angesichts der Pluralität der Lebenswelten Menschen nach Orientierung sehnen und dies mit Hilfe von „exakten“ Wissenschaften gerne „objektiv“ feststellen wollen. Diese Verantwortung ist gegenüber jeder Form einer Religion ausdrücklich zu betonen, die heilige Texte ungeschichtlich wortwörtlich verstehen oder bestimmte historische Zeiten als ursprünglich verklären will.

Ein Blick auf die Bibelwissenschaft mag hilfreich sein: Die Beobachtung, dass verschiedene jüdische Elemente und Traditionen der hebräischen Bibel (welche die Christen „Altes Testament“ nennen) im Neuen Testament aufgenommen worden sind, bestreitet nicht, dass der christliche Glaube eigenständig weitergedacht worden ist. Bei allen gemeinsamen Wurzeln zwischen Judentum und Christentum besitzt das Neue Testament eine eigenständige und zusammenhängende Vision bzw. Aussage. Die Bedeutung der Evangelien für die Gläubigen wird auf diese Weise gerade aufgewertet. Gleiches gilt auch für den Islam. Sich der kontextuellen Perspektive zu stellen, würdigt daher die Komplexität des Islams als eigenständiger Religion und auch die komplexe Entstehungsgeschichte des Qur’âns93.

Religion fällt nicht vom Himmel

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