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Historische Probleme

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Für die Bibel existieren textkritische Ausgaben seit langem. Vielfach wurden von historisch geschulten Theologen Sprache, Inhalt und Struktur des Alten und Neuen Testamentes durchleuchtet. Archäologische Ausgrabungen und zeitgenössische Quellen geben Einsicht in den Kontext der jüdischen wie christlichen Botschaft. Für den Islam und den Qur’ân fehlt das weitgehend, gibt auch die Islamwissenschaftlerin Neuwirth zu58. Fast sämtliche Kenntnisse über den Propheten und seine Verkündigung, wenn man an der traditionellen Geschichtsschreibung festhält, stammen von Muḥammads Biographen, also Gläubigen, die selbst zur Gemeinde gehörten, und sind daher als historische Zeugnisse nur eingeschränkt verlässlich.

Grundsätzlich ist damit die Frage aufgeworfen, ob religiöse Texte Aufschluss geben (können) über reale historische Ereignisse: Inwieweit sind sie nicht größtenteils theologisch und damit als Glaubensaussagen zu verstehen? Diese Frage berührt alle drei monotheistischen Religionen und ihr Verhältnis von göttlicher Offenbarung zu historischen Fakten der konkreten Geschichte. Welche Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass aus den zahlreichen Erzählungen auf der Grundlage verschiedener historischer Anhaltspunkte ein Bild von einem Propheten Muḥammad entstehen konnte, der zum Begründer einer Weltreligion wurde?

Es ist davon auszugehen, dass dabei die Texte der Prophetenbiographien, der „sunna“ sowie der „Annalen“ von aṭ-Ṭabarî vielfach mehr legendarisches Material bieten als wirklich geschichtliche Überlieferungen59, denn sie konzentrieren sich darauf, das Leben Muḥammads und das islamische Gesetz für die Gläubigen darzustellen und zu begründen. Für die Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinn sind sie selbst nach Hoyland, der ansonsten die islamische Lesart der Geschichte teilt, nicht als erste Quelle zu nutzen60.

Das bedeutet nicht, dass aus den ersten zwei Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung zeitgenössische Texte fehlen. An zeitgenössischen Schriften aus dem 7. Jahrhundert existieren jüdische, christliche und andere nichtislamische Zeugnisse. Es gibt die Literatur, die die unter arabischer Herrschaft lebenden Christen hinterlassen haben, die Inschriften, die Münzprägungen, Papyri und die archäologischen Ausgrabungen. All diese Quellen helfen bei der Rekonstruierung der kulturellen, politischen und insbesondere theologischen Entwicklung vom 4. bis 9. Jahrhundert. Von großem Wert ist folgende Beobachtung: Nur selten wird in diesen Schriften einmal eine neue arabische Herrschaft erwähnt. Nichtislamischen Quellen berichten nichts von einer neuen Religion der Araber und auch nicht von einer „arabischen Invasion“.

Um Licht in die Anfänge des Islams zu bringen, ist die Berücksichtigung nichtislamischer Quellen daher von ebenso großer Bedeutung wie es wichtig ist, die vorhandenen islamischen Quellen nicht kritiklos als historische Dokumente zu bewerten. Solch mehr oder weniger kritiklose Übernahme der islamischen Traditionsliteratur aus dem 9. Jahrhundert setzt stillschweigend voraus, dass die literarischen Zeugnisse unumstößlichen dokumentarischen Wert haben. Es wird dann aber zu wenig berücksichtigt, welche Absicht hinter der Tradierung solcher Texte gelegen haben könnte.

In dieser Weise haben westliche Gelehrte über Jahrhunderte die islamische Geschichte nur anhand der muslimischen Quellen nachgeschrieben und diese Zeugnisse wie historische Fakten akzeptiert61. Sie beachteten dabei weder die zeitliche Differenz von fast 200 Jahren noch die im Großraum Syrien verbreitete Tradition der Geschichtenerzähler, die ihrerseits wiederum Traditionen bildeten62. So schreibt Nagel in seiner jüngsten Prophetenbiographie zu Muḥammad: „Bei der Darstellung des Lebensweges Mohammads und der frühen Deutung seines Wirkens halte ich mich vielfach eng an die Redeweise der Quellen (…). Ich scheue mich nicht, mir wesentlich erscheinende Aussagen in Übersetzung wiederzugeben und behalte in diesen Fällen meistens die im Originaltext vorherrschende Vermittlung des Inhaltes (…) bei“63. Es ist erstaunlich, wie über alle literaturkritischen Probleme hinweggegangen wird. Eine historisch-kritische Betrachtung der literarischen Zeugnisse ist auf diese Weise nicht gut möglich.

Geht man von den Texten selbst aus, lässt sich historisch nur festhalten, dass erst im 9. Jahrhundert dargelegt wird, dass die Verkündigung Muḥammads unter dem dritten Kalifen ‛Uṯmân (644–656) „zur heutigen Ganzschrift des Koran zusammengestellt worden sei“64. In dieser Zeit hatten es allerdings die später sogenannten Abbâsiden geschafft, aus dem Ostiran kommend ein mächtiges Großreich im Mittleren Osten zu festigen, bei dem der Islam nicht nur eine Religion der städtischen und politischen Elite, sondern die „neue arabische Religion“ der Massen werden sollte. Es ist nur ehrlich, wenn der Gelehrte van Ess feststellt: Texte aus dieser Zeit stehen „unter dem Verdacht der Projektion“65.

Das gilt auch für die Prophetenbiographien Muḥammads, die viele biographische Details und Legendarisches über den arabischen Propheten zu berichten wissen. Der älteste erhaltene Text, die Sîra von Ibn Hišâm, stammt aus dem 9. Jahrhundert und stellt nach eigenen Angaben eine Überarbeitung des ersten Lebensberichtes durch Ibn Isḥâq (767) dar. Auch hier liegen gut 200 Jahre zwischen den Ereignissen und ihren Berichten. Schon das als verbürgt geltende Geburtsdatum Muḥammads um 570 ist nicht so gewiss, wie es herkömmlich angenommen wird66. Ebenso erweist sich die von Ibn Isḥâq übernommene Chronologie im Leben des Propheten als insgesamt unrealistisch. Es wird auch hier wahrscheinlich, dass mehr theologische Gründe leitend waren und weniger historische.

Ausgehend von der Entstehungszeit der Prophetenbiographien unter der Herrschaft der Abbâsiden lässt sich zumindest fragen, ob nicht Muḥammad – ähnlich wie im Alten Testament beim „deuteronomistischen Geschichtswerk“ der Prophet Mose – als Identifikationsfigur im Rahmen der Machterhaltung und Legitimierung gebraucht wurde. Diese Biographien geben historisch betrachtet das Denken der Autoren im 9. und 10. Jahrhundert wieder. Das Leben des arabischen Propheten selbst liegt eher im Dunkeln.

Pointiert heißt das: „Niemand weiß heute genau, welche Erzählungen über Muḥammad wahr sind und welche als fromme Erfindung verstanden werden müssen“67. Nichtmuslimische Quellen, d.h. syrische, irakische, armenische, griechische, äthiopische, persische oder aramäische Chronisten aus dem 7. Jahrhundert berichten über das Leben Muḥammads und seiner Bewegung, die aus der arabischen Halbinsel in den Großraum Syrien eingedrungen sein soll, nichts68. Die kritischen Fragen der Historiker aufnehmend, erzählt Jansen in seiner Muḥammad-Biographie das Leben Muḥammads auf der Grundlage der Sîra des Ibn Hišâm (bzw. seines Vorläufers Ibn Isḥâq) nach, ohne den kritischen Fragen auszuweichen. Nach seiner Überzeugung ist das, was die Sîra über Muḥammad sagt, und d.h. was das verbreitete überlieferte Islambild bislang über ihn zu wissen meinte, genauso historisch wie die Aussagen der vier Evangelisten über das Leben Jesu.

Viele Geschichten, die von Ibn Isḥâq bzw. in der Weiterverarbeitung durch Ihn Hišâm überliefert sind, haben nach den Untersuchungen von Jansen den theologischen Sinn, schwer verständliche Qur’ânstellen zu erläutern69. Denn viele Qur’ânstellen sind auch für Arabischkenner kaum verständlich. Sie lassen sich aber in Verbindung mit der Sîra interpretieren und ermöglichen eine gewisse (geschichtliche) Zuordnung. Diese Stellen könnten auch ganz anders gedeutet werden, aber durch die Prophetenbiographien erhalten sie einen Sinn, der bis heute in der islamischen Theologie leitend ist. Dass Qur’ân und Sîra wechselseitig genutzt wurden, um theologische Sinnzusammenhänge herzustellen, wird in der Islamwissenschaft nicht bestritten. Aber genau an der Stelle, an der theologische Texte für historische gehalten werden, lohnt es sich, genauer nachzufragen. Es ist aufgrund der Quellenlage erstaunlich, wie der Islamwissenschaftler Busse zu dem Urteil kommt, dass „die arabische Historiographie (…) in Bezug auf die Qualität den Vergleich mit der Geschichtsschreibung anderer Kulturkreise nicht zu scheuen“ brauche70.

Dass insbesondere dem Historiker (!) im Qur’ân und in der Sîra des Propheten „eine höchst farbige Quelle“71 zur Verfügung stehe, lässt sich angesichts des historischen Befundes so zweifelsfrei, wie es Nagel tut, gerade nicht sagen. Nach Jansen ist es erstaunlich, dass sich ein solch geschlossenes Bild der islamischen Geschichtsschreibung über Jahrhunderte auch in der westlichen Welt erhalten konnte, ohne dass die genaue Chronologie der Ereignisse bei der Geburt Muḥammads kritisch befragt wurde72. Jansen hält demgegenüber in seiner Muḥammad-Biographie fest: „Was wir wirklich über ihn wissen, ergäbe ganz sicher kein Buch“. In „heiterer Gelassenheit“ nimmt er daher die spätere Überlieferung als literarische, aber nicht als historische Quelle73.

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