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Kontextuelle Spurensuche

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Die religiöse Kultur des Großraums Syrien war eine pluralistische Kultur, wie G. Widengren festhält: „Umstrittene politische Kraftfelder, verschiedene Kultureinflüsse und wetteifernde Religionen machen das Land zu einem Brennpunkt, an dem zwei Imperien, das römische und das iranische, aufeineinander stoßen, wo zwei Kulturen, die hellenistische und die iranische, sich begegnen, und wo die Religionen – nicht nur zwei, sondern eine Unzahl von Glaubensrichtungen – den Kampf um die Seelen aufgenommen haben“75.

Das galt schon im Blick auf die Bevölkerung, die sich aus sehr unterschiedlichen Völkern zusammensetzte. Neben den von alters her ansässigen Aramäern (den späteren Syrern im engeren Sinne) lebten Phönizier, Kanaanäer, Israeliten, Araber, Perser u.a. in diesem Teil der Erde und waren wechselnden politischen Einflüssen und Mächten ausgesetzt. So herrschten in diesem Gebiet die Ägypter, die Hethiter, die Perser und nicht zuletzt die Griechen und die Römer, die allesamt ihre Spuren auch in kultureller und religiöser Hinsicht hinterlassen haben.

Römische und griechische Götterwelt, die zorastische Religion, Judentum, Christentum in all ihren Formen mit apokalyptischen und gnostischen Ausprägungen beeinflussten die Region. Solch eine pluralistische Kultur gewährleistete kein störungsfreies und erst recht kein chancengleiches Zusammenleben der Religionen verschiedener Völker. Machtfragen spielten eine wesentliche Rolle, Verfolgungen Andersgläubiger waren an der Tagesordnung. Und dennoch gelang es in diesem Lebensraum niemandem, die Überzeugungen der Anderen auszurotten und eine religiös in sich geschlossene Gesellschaft aufzurichten. Es ist von daher keine Überraschung, wenn sich die verschiedenen religiösen Strömungen wechselseitig beeinflusst haben und aus dem gemeinsamen religiösen und kulturellen Erbe im Großraum Syrien geschöpft haben.

Mit den letzten Bemerkungen wird der Ausgangspunkt dieses Buches benannt: Die Einladung zu einer spannenden kontextuellen Spurensuche hin zu den historischen Anfängen des Islams. In der westlichen Islamwissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten einiges in Bewegung gekommen und wird neu diskutiert. Dabei ist Konsens, „dass die Anfänge des Islams nur dann verstanden werden können, wenn sie nicht von späteren Rückprojektionen, sondern auf der Basis der historischen Quellen und von den sich auf sie stützenden historischen und philologischen Fragestellungen her untersucht werden“76. Das religionsgeschichtliche Denken war für frühere Islamwissenschaftler wie Geiger, Weil, Goldziher, Mingana u.a. selbstverständlich gewesen. In der heutigen westlichen Islamwissenschaft werden Untersuchungen der benachbarten Religionen wie Zoroastrismus (Parsismus), Gnosis oder Manichäismus und der innerchristlichen Streitigkeiten wenig für die geschichtliche Darstellung des frühen Islam herangezogen.

Erst angestoßen durch die neueren Debatten zum Kontext und zur Entstehung des Islams im Allgemeinen und des Qur’âns im Besonderen ist auch in der westlichen Islamwissenschaft das Interesse an dem gemeinsamen religiös-kulturellen Erbe wieder neu erwacht. Das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften finanzierte Langzeitprojekt eines „Corpus Coranicum“ will den geistigen Wurzeln des Qur’âns in den anderen Religionen nachspüren und belegen, dass der Islam auf dem spätantiken geistigen Erbe beruht, das er gemeinsam mit Juden und Christen teilt77. Insgesamt wird erkennbar, dass in der Forschung die Arbeit an dem gemeinsam geteilten Erbe wieder neu an Bedeutung gewinnt.

Allerdings ist die historisch-kritische Forschung über Muḥammad und noch mehr am Qur’ân keine leichte Angelegenheit. Und das aus wenigstens zwei Gründen: Zum einen genießt Muḥammad eine herausragende, fast unantastbare Stellung unter den Muslimen und der Qur’ân gilt im islamischen Selbstverständnis als „konkurrenzloses Buch“. Konkurrenzlos, weil ihm „göttliche Urheberschaft“ zuerkannt wird im Gegensatz zur Bibel, die – obwohl göttlich inspiriert – als Menschenwort angesehen wird. Dieses Buch ist nicht anzuzweifeln, es ist das unantastbare Wort Gottes, so dass die Leute, die sich mit dem Qur’ân befassen, Gottes Familie und seine Vertrauten bilden78. Wissenschaftler und Schriftsteller, die z.B. die Rahmenbedingungen einbeziehen, unter denen der Islam entstanden ist, stehen bereits unter Häresieverdacht. So kann es geschehen, dass Kritiker nicht als Kritiker, sondern als Apostaten gelten. Und ein Abfall vom rechten Glauben kann im Islam mit dem Tod bestraft werden.

Zum anderen ist die Einordnung des historischen, religiösen, politischen und kulturellen Kontextes in der Islamwissenschaft umstritten. Die Frage nach der ursprünglichen Form des Qur’âns wurde und wird schon unter islamischen Gelehrten untersucht. Natürlich haben diese islamischen Gelehrten die traditionelle Lesart des Qur’âns als direkte Offenbarung an Muḥammad nie in Frage gestellt. Aber ausgehend von der schon im Qur’ân gestellten Frage: „Betrachten sie denn nicht sorgfältig den Qur’ân?“ (Sure 4,82), war (und ist) stets das Ziel, die Aussagen des Qur’âns besser zu verstehen79 – eben auch mit einer Einordnung des Textes in seinen historischen Kontext (z.B. indem man unterscheidet zwischen Suren aus der medinensischen und aus der mekkanischen Periode. Ebenso wurde in der westlichen Islamwissenschaft an einer chronologischen Reihenfolge der Suren gearbeitet80).

In der islamischen Tradition gilt es stets als Ziel, den Islam schon von seinen Anfängen her als eigenständige Religion darzustellen. Abhängigkeiten von anderen sind in diesem Geschichtsbild nicht vorgesehen. Daher gilt die Zeit vor dem Islam auch als „ğâhiliyya“, als „Zeit der Unwissenheit“, und verdient nur insoweit Beachtung, als sie deutlich macht, welch große Errungenschaft der Islam darstellt.

Doch keine der Religionen ist nur aus sich selbst heraus zu verstehen, sondern nur im Kontext der Zeit ihrer Entstehung und d.h. mit Außenstehendem. Wenn sich eine Religion allerdings als von Gott direkt gegeben versteht, sind alle geschichtlichen Annäherungen und historischen Einordnungen, die nicht dem Selbstverständnis entsprechen, nicht geduldet. Hier genau lohnt sich ein Blick zurück zu den sogenannten „dunklen Anfängen“ des Islams. Es ist jedem sofort einsichtig, dass es notwendig ist, die Entwicklung des Islams im Kontext seines geographischen, religiösen, historischen und sprachlichen Entstehungsraumes zu untersuchen.

Religion fällt nicht vom Himmel

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