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Vorwort

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Am 13. Oktober 2007 sendeten 138 muslimische Gelehrte aus aller Welt einen bemerkenswerten Brief an Papst Benedikt XVI. und andere christliche Führer mit dem bezeichneten Titel „A Common Word between Us and You“, um die Notwendigkeit des Dialoges zwischen Muslimen und Christen herauszustellen.1 Denn „Muslime und Christen machen gemeinsam mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Ohne Frieden und Gerechtigkeit zwischen diesen beiden religiösen Gemeinschaften kann es keinen Frieden von Bedeutung in der Welt geben“. Dieses Dokument ist in der Geschichte des interreligiösen Dialogs beispiellos. Zum ersten Mal „seit den Tagen des Propheten“ haben Gelehrte, Amtsträger und Intellektuelle aus der Welt des Islams sich einmütig zusammengefunden, um einen aus ihrer Sicht gemeinsamen Grund zwischen Christentum und Islam2 herauszuarbeiten.

Traditionelles islamisches Denken erklärt aufgrund einschlägiger Textpassagen im Qur’ân die heiligen Schriften von Juden und Christen in der Regel für verderbt und verfälscht. Deshalb ist es besonders bemerkenswert, dass in „A Common Word“ muslimische Autoritäten das Alte wie das Neue Testament in ihren Überlegungen als wichtige Texte zitieren. Angesichts des unermesslichen Leids, das religiöse Streitigkeiten und Missverständnisse sowie Machtinteressen im Laufe der Geschichte immer wieder verursacht oder zumindest gefördert haben, ist die Initiative des „Common Word“ beachtenswert. Die muslimischen Gelehrten lassen erkennen, dass es ein gemeinsames religiöses Erbe und eine gemeinsame interkulturelle Geschichte der drei großen monotheistischen Religionen gibt. Die Unterzeichner respektieren die Autorität der Thora sowie des Neuen Testamentes als heilige Schriften. Die Zitate aus dem Qur’ân sowie aus dem Alten und Neuen Testament, die sich auf das „Doppelgebot der Liebe“ („Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“) beziehen, werden als geistiges und ethisches Zentrum, als gemeinsame Wurzeln herausgestellt.

Zahlreiche Glaubensinhalte, Werte und sogar Praktiken haben Christen und Muslime (und Juden) gemeinsam bzw. sind sich genügend ähnlich, um zum Dialog zu drängen3. Abraham (Ibrâhîm), Moses (Mûsâ) oder Jesus (‛Îsâ) finden sich nicht nur in der Bibel, sondern auch im Qur’ân. Darüber hinaus existiert eine Fülle von weiteren Parallelen zu jüdischen und christlichen Texten. Das Entdecken von Gemeinsamkeiten sollte Vorrang haben vor der Betonung von Differenzen. Diese Gemeinsamkeiten kann man nur beschreiben, wenn man die zur Trennung führenden Entwicklungslinien in den Blick nimmt. Ein zukunftsfähiger Dialog braucht daher einen quellen- und textkritischen Umgang mit den Urkunden des Glaubens. Erst dann können die Urkunden des Glaubens eine Grundlage friedlicher Beziehungen zwischen Christen und Muslimen (und Juden) werden. Denn nur dann ist es möglich, die Quellen und die heiligen Texte in ihren gemeinsamen geschichtlichen Kontext, in dem sie entstanden sind, einzuordnen und zu verstehen. Das setzt natürlich die Bereitschaft voraus, sich mit der jeweils eigenen Tradition und Glaubensgeschichte kritisch auseinandersetzen und nach ihrer spirituellen Bedeutung fragen zu wollen.

Daher geht es beim historisch-kritischen Ansatz, der in diesem Buch verfolgt wird, nicht darum, sich der anderen Religion gegenüber rechthaberisch zu geben oder in einer Haltung der Überlegenheit aufzutreten. Auch die historisch-kritische Methode kann nicht „die allein gültige Wahrheit“ hervorbringen. Recht verstanden fördert dieser Ansatz jedoch in einer religionswissenschaftlichen Betrachtung das Gespräch und die gegenseitige Achtung unter den Religionen. Im jüdisch-christlichen Dialog wurde das gemeinsame Erbe Jahrhunderte lang mit all den schmerzhaften Folgen außer Acht gelassen. Christen haben erst nach vielen Jahrhunderten mühsam gelernt, im Judentum eine verwandte Religion zu sehen. Eine historisch-kritische Herangehensweise, so die These dieses Buches, ermöglicht es erst, dieses gemeinsame Erbe auch im christlich-islamischen Dialog zu würdigen. So lernt man, die Darstellung der eigenen Religionsgeschichte nicht absolut zu setzen und den Andersgläubigen bei allen vorhandenen Unterschieden als „nächsten Verwandten“ zu sehen.

Es ist dann nicht möglich, sich selbst „im Besitz der Wahrheit“ zu sehen und den anderen nur auf der Seite des Irrtums. Diese Fixierung auf die alleinige Wahrheit der eigenen Religion verhindert, sich in den anderen hineinversetzen zu können. Das Trennende wird so immer stärker betont als die gemeinsamen Wurzeln, die Feindbilder mehr gefördert statt eine Verstehensbrücke zwischen den Religionen und Kulturen zu bauen.

Mir ist bewusst, dass für manchen Gläubigen das Wort „historisch-kritisch“ negativ besetzt sein mag und die Befürchtung mitschwingt, das eigene Glaubenfundament solle relativiert und möglicherweise sogar aufgelöst werden. Einige Schlussfolgerungen meines Buches werden bei etlichen Christen und Muslimen vermutlich zunächst auf Ablehnung stoßen. So wie die Abhängigkeiten von der jüdischen Tradition viele Jahrhunderte bei Christen bestritten worden sind (und teilweise bis heute bestritten werden), tun sich Muslime schwer, aufgrund ihres Offenbarungsverständnisses zu akzeptieren, dass der Islam stark auf jüdisch-christlichen Traditionen fußt. Doch die historisch-kritische Perspektive lässt geschichtliche Entwicklungen deutlich werden, sagt aber nichts darüber, wie und ob diese Ereignisse Offenbarungsqualität haben – das ist eine spirituelle Frage, die der Entscheidung der Gläubigen obliegt.

Das „Common Word“ hat in seinem Schlussabschnitt zu Recht herausgestellt: Gerade friedvolle Beziehungen zwischen Christen und Muslimen sind eine der zentralen Herausforderungen dieses Jahrhunderts. Abgrenzungen und Verurteilungen schüren nur Feindbilder. In der westlichen Welt wird der Islam häufig auf seine politische Variante, den Islamismus, reduziert. In der sogenannten islamischen Welt sind Klischees vom Westen dessen einseitige materialistische Ausrichtung und Aggressivität. Solchen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen liegt jeweils die Vorstellung zugrunde, dass Kulturen und Religionen abgeschlossene und homogene Einheiten seien. Um diese Sicht zu überwinden, genügen wechselseitig gut gemeinte Appelle nicht. Eine selbstkritische Betrachtung der eigenen Glaubensgeschichte gehört wesentlich dazu, um das immer wieder erkennbare Überlegenheitsdenken gegenüber dem Anderen aufzudecken und die daraus in der Geschichte resultierende Unterdrückung des Andersgläubigen zu überwinden.

Nicht der Glaube von Juden, Christen oder Muslimen ist damit in Frage gestellt. Die religiösen Überzeugungen der Gläubigen verdienen höchsten Respekt. Und Menschen, die sich auf der Grundlage ihres Glaubens für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung sowie für das Zusammenleben und das Verständnis der Religionen einsetzen, sind hoch zu achten, gleich welcher Religion sie angehören.

Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen: Wer sich um die Hintergründe der für den Glauben relevanten Quellen und Texte kümmert, der schützt diese Quellen und Texte vor ungeschichtlichem Missbrauch. Ohne eine historisch-kritische Einordnung lassen sich Texte nach Belieben deuten, weil der Kontext, in dem sie entstanden sind, nicht berücksichtigt wird. Der historische Blick zeigt, wie komplex sich der Entstehungsprozess einer Religion und ihrer heiligen Texte darstellt. Und er macht deutlich, auf welcher Grundlage Quellen und Texte verstanden werden müssen, um sie nicht misszuverstehen. Ein historisch-kritischer Zugang entzieht damit den fundamentalistischen Strömungen in den jeweiligen Religionen ihre Grundlage, die heiligen Texte letztgültig und nur auf ihre eingeschränkte Weise zu deuten. Daher ist dieser Zugang eine Bereicherung für das spirituelle Leben.

Ein historisch-kritischer Zugang zu den Quellen schafft so betrachtet erst die Voraussetzung für einen interreligiösen Dialog. Er lässt sichtbar werden, dass Texte nur in ihrer dienenden Funktion für die spirituelle Praxis Heilige Schrift sind und nicht die Textgestalt selbst heilig ist. Es geht dabei zunächst um Grundlagenforschung. Historisch-kritisch zu arbeiten bedeutet, diese Text- und Redaktionsgeschichte der jeweils heiligen Texte und der geschichtlichen Quellen zu untersuchen. Dazu gehört insbesondere die Einordnung dieser Quellen in den sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Kontext der Gesellschaft, in der die Texte entstanden sind. Ebenso ist die Begriffs- und Motivgeschichte zu untersuchen und die Etymologie, die Herkunft und Ableitung der Begriffe und Wörter.

Die klassische Darstellung der islamischen Frühgeschichte ist allenthalben bekannt. Eine neuere kritische Forschung hat erst in den letzten Jahren begonnen, an die historischkritischen Arbeiten im 19. Jahrhundert anzuknüpfen, die noch einmal ein anderes Licht auf die ersten Jahrhunderte des Islams werfen. Diese Diskussionen über die Frühgeschichte des Islams werden in Fachkreisen kontrovers geführt. Das vorliegende Buch greift die aktuelle Debatte um kritische Forscher wie Puin, Kropp, Crone, Cook, Gilliot, Luxenberg, Ohlig, Jansen u.a. auf der einen und den klassischen Islamwissenschaftlern wie Neuwirth, Schöller, Nagel, Hoyland, Bobzin, Krämer, Schoeler, Suermann u.a. auf der anderen Seite auf. Es bietet einen Beitrag, aus historisch-kritischer Perspektive einen differenzierten Blick auf das gemeinsame Erbe zu werfen, aus dem sich Judentum, Christentum und Islam entwickelt haben. Dabei wird in diesem Buch der Schwerpunkt darauf liegen, die Nähe von Christentum (insbesondere der ostsyrischen Tradition, die uns in der westlichen Welt kaum bekannt ist) und dem Islam neu zu beleuchten. Jede Religion (ob Judentum, Christentum oder Islam) entwickelte aus dem allgemein verfügbaren religiös-kulturellen Erbe im Großraum Syrien ihre spirituellen Richtungen. Für die Gläubigen hat diese Auswahl Offenbarungsqualität für Glauben und Leben und ist zum entscheidenden Deutungsrahmen ihres Gottes-, Welt- und Menschenverständnisses geworden. Wie das Christentum in seiner Theologie und Religionsausübung an das Judentum und die heidnischen Kulte im 1. Jahrhundert anknüpfte4, orientierte sich der Islam an dem in seiner Zeit vorgefundenen religiös-kulturellen Erbe und entwickelte sich zu einer eigenständigen Weltreligion.

Bei der Frage nach den Hintergründen dieser Entwicklung werden bewusst die Forschungsergebnisse der kritischen Islamwissenschaftler aufgenommen, die diese Debatte um eine historisch-kritische Darstellung der ersten Jahrhunderte des Islams mit angestoßen haben. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit der traditionellen Geschichtsschreibung. So versucht das Buch die Argumentationslinien der verschiedenen Forscher zusammenzuführen zu einem von dogmatischen Fixierungen befreiten Bild der Entstehungsgeschichte des Islams – wohl wissend, dass dieses Bild auf Indizien beruht, die durch neue Funde und Forschungen auch in einem ganz anderen Licht erscheinen können.

Im Anhang finden sich zu einer ersten Orientierung eine Zusammenfassung aller Kapitel sowie eine vergleichende Chronologie nach traditioneller und nach kritischer Lesart. Ein Begriffslexikon erläutert alle wichtigen Stichworte. Um den Lesefluss zu fördern, habe ich bewusst alle Anmerkungen mit den Quellenverweisen an das Ende des Buches gestellt.

Vielen habe ich zu danken, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht hätte entstehen können. Zu allererst danke ich meiner Frau Elke, die über drei Jahre lang geduldig den Weg bis zur Fertigstellung liebevoll begleitet hat. Danken möchte ich auch meiner Kollegin im Pfarramt, Pfarrerin Sabine Zielsdorf, die manche Mehrarbeit auf sich genommen hat, und dem Kirchenvorstand der Emmausgemeinde Rodgau-Jügesheim, der mich bei meinem Spagat zwischen Gemeindearbeit und wissenschaftlicher Forschung unterstützte.

Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle auch Prof. Dr. Theresia Hainthaler von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt für ihre kritische Würdigung der syrischen Theologie- und Kirchengeschichte. Ich danke dem „Institut für die Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaft“ an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main, der „Near East School of Theology“ sowie dem Orientinstitut, beide in Beirut/Libanon und „Inârah“, dem „Institut zur Erforschung der frühen Islamgeschichte und des Koran“, Saarbrücken, für die Unterstützung durch Gespräche und Hinweise auf Literatur, durch die mir zahlreiche Anregungen zuteil wurden.

Für die Durchsicht und vielfältige Hilfe bei den Korrekturen in verschiedenen Stadien der Arbeit danke ich Dr. Martin Schultheiß, insbesondere auch für seine hilfreiche Lektoratsarbeit. Für den Satz des Buches danke ich der Mediengestalterin Nora Göbel. Für die kritische, zugleich aber konstruktive Beratung und Begleitung meiner Arbeit danke ich Prof. Dr. Dr. Friedrich Erich Dobberahn und Harald Faber, Dozent am Missionsseminar Hermannsburg und an der Universität Göttingen. Die beiden haben mir nicht nur in Fragen der Arabistik und der semitischen Philologie wichtige Hinweise gegeben, sondern haben auch in mühevoller Arbeit dafür gesorgt, dass die Zitierung und Transliteration der von mir angeführten Begriffe und Texte aus dem Qur’ân, aus den aramäischen Inschriften und anderen semitischsprachigen Dokumenten möglichst nach den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) erfolgt5.

Besonders herzlich danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Paul Imhof, der mich zu dieser Forschungsarbeit anregte und dessen sachkundige Begleitung mir stets Motivation und Hilfe war. Eduard Saroyan, dem Präsidenten der „Deutschen Universität in Armenien“ (DUA)6, und Prof. Dr. Ruben Safrastyan, Direktor des „Instituts für Orientalistik“ an der Nationalen Akademie der Wissenschaften Armeniens in Yerivan7 und Hochschulratsvorsitzender und Leiter des Instituts für Ost-West-Studien an der DUA, danke ich für die Aufnahme der Arbeit im Forschungsbereich „Weltgeschichte und Orientalistik“ an der Akademie. Der „Wissenschaftlichen Buchgesellschaft“ und der „Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau“ danke ich für die Unterstützung bei der Drucklegung dieses Buches.

Andreas Goetze, am Reformationstag 31. Oktober 2010

Religion fällt nicht vom Himmel

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