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Vergessene „Kirche im Osten“

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In dieser multireligiösen Situation entwickelte sich ein lebendiges Christentum. Vielfältig waren (und sind bis heute!) diese Ausprägungen des Christentums im großsyrischen Raum84: Die verschiedenen Konfessionen wie die Chalcedonenser, „Melkiten“85, Jakobiten oder ostsyrische Christen, die in der westlichen Kirchengeschichte fälschlicherweise „Nestorianer“ genannt werden, bauten ihre Kirchen und bildeten ihre je eigenen Gemeinden mit Bischofssitzen und sonstigen Strukturen heraus.

In der westlichen Kirchengeschichte beschränkt sich die allgemeine Kenntnis der Konfessionen in der Regel auf katholisch, evangelisch und orthodox. Die Glaubensüberzeugungen der orientalischen Kirchen mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sind vielfach nicht bekannt. Diese Kirchen des Mittleren Ostens sind aber nicht bloß „pure Geschichte“, sie sind weiterhin lebendige Zeugen christlichen Glaubens in den heute mehrheitlich muslimisch geprägten Gesellschaften der arabischen Welt. Das gilt insbesondere für die „Heilige Apostolische und Katholische Assyrische Kirche des Ostens“86, im Folgenden „ostsyrische Kirche“ oder „Kirche des Ostens“87 genannt. Sie hat mit ihren theologischen Grundgedanken und insbesondere mit ihrem Verständnis von Jesus Christus bemerkenswerten Einfluss im Großraum Syrien gehabt.

Der in der westlichen Kirchengeschichte gebräuchliche Ausdruck „Nestorianer“ wird von der „Kirche des Ostens“ abgelehnt. Sie verstehen sich nicht als Kirche, die auf den syrischen Kirchenvater Nestorius zurückgeht. Und vor allem liegt in der Bezeichnung „Nestorianer“ die abfällige Deutung der ostsyrischen Christen als Häretiker; als Mitglieder einer Kirche, die vom wahren – dem westlichen (!) – Glauben abgefallen ist. Der Ausdruck „Nestorianer“ ist keine Selbst-, sondern eine westliche Fremdbezeichnung und sollte daher im ökumenischen Gespräch vermieden werden.

Es ist in der westlichen Welt kaum bekannt, dass diese „Kirche des Ostens“ eine höchst lebendige Kirche im Großraum Syrien gewesen ist, die nach dem 4. Jahrhundert an Größe und Einfluss vergleichbar war der katholischen Kirche heute. Der Ursprung dieser „Kirche des Ostens“ liegt vor allem im Gebiet des persischen Reiches. Sie war es, der es gelang, den christlichen Glauben in Mesopotamien, Arabien und Asien bis nach Indien und sogar nach China auszubreiten. Sie prägte in den ersten Jahrhunderten nach Christus die weitere religiöse und politische Entwicklung des Großraums Syrien. Sie war bis zum Mongolensturm im 14. Jahrhundert im asiatischen Raum eine blühende Kirche88.

Dieses Buch stellt ihre Grundgedanken vor. Es wird dabei deutlich, wie bedeutsam ihre Art zu glauben, ihre Theologie, ihr Selbstverständnis für die arabischen Christen in vorabbâsidischer Zeit gewesen ist. Mehr noch: Mit der Kenntnis der theologischen Grundgedanken der „Kirche des Ostens“ werden einem christlich-muslimischen Dialog neue Perspektiven eröffnet. Schon im 19. Jahrhundert hat der Orientalist und Religionswissenschaftler Tor Andrae in seinen Forschungen darauf hingewiesen, dass Muḥammad wohl durch missionarische Predigten der syrischen Christen geprägt worden sei89.

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