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Das Verständnis von Gottes Geist prägt die Deutung der Welt

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Zum einen ist der historisch-kritische Zugang zum gemeinsamen Erbe von Judentum, Christentum und Islam ein wesentlicher Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie stark der kulturelle, religiöse und politische Kontext Denken und Glauben der jeweiligen Religionen bestimmt hat.

Zum anderen steht die Auslegung und Deutung des „Heiligen Geistes“ als ein besonderer theologischer Blickwinkel im Hintergrund der Überlegungen94. Die Frage nach dem „Heiligen Geist“ steht in diesem Zusammenhang für die Frage nach dem „Wie“ des Handelns Gottes in der Welt und nach Gottes Gegenwart in der Welt – besonders, wenn die verheißene Wiederkunft Christi (zunächst) ausbleibt.

Schon im Rahmen der historisch-kritischen Annäherung an die Zeit des 4.–9. Jahrhunderts kommt der Auffassung des Geistes (Gottes) eine besondere Bedeutung zu, denn das Denken über den Geist und die Hochschätzung geistbegabter Menschen hat schon den Großraum Syrien zu jener Zeit wesentlich bestimmt. Darüber hinaus, so die in diesem Buch vertretene These, ist das jeweilige Grundverständnis des Geistes bis heute wesentlich dafür verantwortlich, wie die einzelnen Religionsvertreter den Menschen, die Welt und vor allem das Handeln Gottes in der Welt bis hin zur ewigen Erlösung verstehen. Die Entstehung der „neuen arabischen Religion“, des Islams, ist ohne eine Veränderung im Denken über den Geist Gottes von einem mehr eschatologischen Verständnis hin zu einem mehr apokalyptischen Verständnis nicht hinreichend zu beschreiben. Etwas vereinfacht soll das im Folgenden dargestellt werden.

Das Wirken des Geistes Gottes und damit das Handeln Gottes in dieser Welt kann grundlegend und im gewissen Sinn idealtypisch in zweifacher Weise beschrieben werden: im Rahmen eschatologischer Erwartung oder im Rahmen apokalyptischen Denkens. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob Gottes Geist gegenwärtig in der Geschichte (d.h. präsentisch) geglaubt und innerweltlich erfahren werden kann oder ob geglaubt wird, dass er vor allem erst außerhalb der Welt im Jenseits erfahren werden kann.

1. In der ersten Weise handelt Gott segensreich in der Welt schon jetzt. Im Hier und Jetzt wirkt Gottes Geist und verwandelt die Welt in Richtung auf das Reich Gottes. Dieses Reich Gottes ist bereits angebrochen, aber die Vollendung steht noch aus. Dieses Denken wird im Folgenden mit dem Begriff Eschatologie oder mit eschatologischer Erwartung beschrieben. In diesen Zusammenhang gehört die messianische Hoffnung. Sie wird genährt durch die Erwartung, dass die gegenwärtige Zeit die Zeit der geschichtlichen, innerweltlichen Erfüllung ist (präsentische Eschatologie: „Gottes Geist in der Zeit, in einem Geistträger, in mir“). Durch einen Geistträger wie z.B. einen Heiligen Mann oder den Messias wird Gott in der Gegenwart verortet und kann so erfahren werden.

Was aber, wenn die Wiederkunft des Messias länger als erwartet ausbleibt, wenn die erwartete Parousie sich weiter verzögert? Wenn der Geist Gottes sich nicht unmittelbar gegenwärtig zu erweisen scheint? Dann muss auch diese Erfahrung theologisch gedeutet und bearbeitet werden.

Bereits das Neue Testament zeigt, dass sich die Gemeinden mit der Frage auseinandersetzen mussten, wann denn Jesus Christus wiederkommt (1. Thess 4+5; 2. Thess, 2. Petr). Die ersten Christen hatten die Parousie Christi noch zu ihren Lebzeiten erwartet, doch nun waren schon etliche verstorben. Am Ende des 1. und zu Beginn des 2. Jahrhunderts stand die Kirche vor dem Problem, ob und in welcher Weise sie am Gedanken der nahe bevorstehenden Wiederkunft (der Parousie) Christi als Weltenrichter festhalten sollte.

Der 2. Brief an die Thessalonicher (2,1f) wendet sich dem Problem der Parousieverzögerung zu und warnt vor überspannter Naherwartung95. Man solle nicht verzweifeln, sondern weiter getrost hoffen, auch wenn sich die Wiederkunft Christi verzögert. Dass es unter den ersten Gemeinden nicht zu einer großen Krise angesichts des Ausbleibens Christi gekommen ist, dürfte an den stärker bestimmend gewordenen theologischen Deutungen gelegen haben, die die Zukunftsaussagen der Bibel weitgehend ignorieren. Eine zukunftsgerichtete Eschatologie wurde thematisch vernachlässigt. Die Ausschaltung des Zukunfts-Faktors aus dem theologischen Denken mündete in das Bild vom jetzt in der Gegenwart „wandernden Gottesvolk“ (Hebr. 13) bis hin zu der Konzeption des Johannesevangeliums, die jegliche kosmologisch-apokalyptischen Elemente ausschied. Dieser Aspekt der johanneischen Theologie sollte mehrheitlich in der Orthodoxie sowie in den westlichen Kirchen bestimmend werden, während sich im Osten des großsyrischen Raumes aufgrund anderer geistesgeschichtlicher Voraussetzungen die „präsentische Eschatologie“ weniger stark durchsetzen konnte.

2. Die zweite Weise mit dem Geist Gottes und der Parousieverzögerung umzugehen soll mit dem Begriff apokalyptisches Denken gefasst werden. Ist dieser Geist Gottes nicht mehr in der Gegenwart zu erfahren und damit ortlos geworden, ist die Erfüllung der Verheißungen in der gegenwärtigen Geschichte, im „Hier und Jetzt“, nicht mehr zu erwarten. Dann wird aus solch einem messianisch-eschatologischen Denken ein apokalyptisches. Dieses Denken ist stärker von einem Dualismus zwischen Gott und der Welt geprägt. In unruhigen Zeiten, in historischen Umwälzungen wie sie den Großraum Syrien in dem zu betrachtenden Zeitraum im 4.–9. Jahrhundert erschütterten, kam es zum erneuten Aufblühen solch apokalyptischen Denkens. Das Paradies schien verloren, die Messiashoffnung war enttäuscht und die Frage bewegte, wie man die Jetztzeit noch aushalten könnte und/oder wie das Kommen der „messianischen Zeit“ beschleunigt und herbeigeführt werden könnte.

Apokalyptisches Denken entwickelt sich durch das Erleben erschütternder Weltereignisse, aufgrund derer man glaubt, die Welt und die Geschichte nur noch als einen „geistlosen“ und furchtbaren Ort definieren zu können. Die Welt wird zu einem Ort des „Endkampfes zwischen den gerechten und den gottlosen Mächten“. Auf diesen Endkampf kann man sich unterschiedlich einstellen. So gibt es innerhalb der apokalyptischen Bewegungen zwei Grundhaltungen.

Die eine Grundhaltung betont, dass es gelte, selig auszuharren, bis der Geist Gottes und damit das Ende komme und das Ziel im Jenseits erreicht werde. Es ist eine abwartende Haltung, die versucht, den eigenen Glauben zurückgezogen und bewusst unauffällig zu leben. Man ist bereit, für den Glauben einzustehen und das Martyrium zu erleiden. Getragen wird diese Art des Denkens und Glaubens von der Überzeugung, dass Gott es in der Zukunft richten wird. Der Plan Gottes wird seine Getreuen nicht fallen lassen.

Die andere Grundhaltung ist ebenfalls davon bestimmt, dass Gottes Geist nicht mehr in der Gegenwart erfahrbar ist. Man glaubt ebenso nicht, dass der „Geist Gottes in mir“ bzw. in einem Geistträger wie Jesus („präsentisch“, d.h. gegenwärtig) wirksam ist. Vielmehr gilt: „Gottes Geist ist vor mir“. Er wird erst am Ende der Zeiten in einem kosmischen Ereignis und im Gericht Gottes sichtbar werden und ist nicht in einem erwählten Geistträger erfahrbar. Nur zieht diese zweite Haltung innerhalb des apokalyptischen Denkens völlig andere Konsequenzen aus diesen Wahrnehmungen. Sie fordert heraus, sich aktiv zur Verwirklichung des Planes Gottes einzusetzen, damit Gott schneller das tue, was er ohnehin vorhabe. Es ist möglich, nicht nur passiv auszuharren, bis das Ende kommt. Wenn der Messias nicht kommt, ist man trotz der Übermacht der „Feinde Gottes“ herausgefordert, sich aktiv für das Kommen der „neuen Welt Gottes“ einzusetzen. Der Kampf für den Glauben wird dabei Teil des Selbstverständnisses dieser Art apokalyptischer Geisteshaltung.

Für das apokalyptische Denken gilt grundsätzlich: Um gottgefällig leben zu können, muss es eine Offenbarung Gottes geben, die ermahnt, auf dem gottgefälligen Weg zu bleiben und eindringlich warnt, davon abzuweichen. Diese Offenbarung Gottes muss in heiligen Texten festgehalten werden. Der „Geist wird Buch“ und dieses Buch wird als von Gott diktierter heiliger Text zum entscheidenden Anhaltspunkt für ein gottgefälliges, für Gottes Sache kämpfendes und nach Ritualen und Gesetzen sich richtenden Leben in der „geistlosen Zeit“. Das gilt für das Buch Daniel im Alten Testament, für das Buch der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament und auch für den Qur’ân.

Wenn die Errichtung von Gottes neuer Welt auf sich warten lässt – wie gehen die Gläubigen mit dieser Parousieverzögerung um? Die vom Verständnis des Geistes bestimmte Deutung heiliger Texte im jeweils eigenen Lebenskontext bestimmt dabei das Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit, von Erwartung und Hoffnung entscheidend mit. Es macht einen großen Unterschied, ob ich Gottes Geist eschatologisch oder apokalyptisch denke und deute96. Angesichts der Parousieverzögerung: Glaube ich trotzdem, dass Gottes Geist in der Geschichte handelt und die Welt verwandelt oder bin ich der Überzeugung, dass die Welt nur noch eine streng begrenzte Zeit existiert, bis sie vergeht und erst im Jenseits Gottes Geist wirklich wirksam ist?

Was die Bibel und insbesondere die apokalyptischen Texte im Alten wie Neuen Testament meinen oder wie der Qur’ân „wirklich“ zu verstehen ist, wird aktuell geprägt von diesem oder jenem Verständnis des Geistes. Jede Generation ist neu vor die Herausforderung gestellt, dieser Wirklichkeit auf die Spur zu kommen und sich die heiligen Texte neu zu erschließen. In einer besonderen Weise gilt das für die Gemeinschaft der Gläubigen, für die die „heiligen Bücher“ mehr bedeuten als nur Schriftstücke aus historischer Zeit. Dabei mag eine Lesart heiliger Texte unter Aufnahme ihres historischen, kulturellen, religiösen und politischen Kontextes helfen, zu einer verantworteten Aufnahme der Überlieferung in heutiger Zeit zu gelangen und ein apokalyptisches Weltverständnis zu überwinden.

Religion fällt nicht vom Himmel

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