Читать книгу Tiefenzone - Andreas J. Schulte - Страница 10
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ОглавлениеAm nächsten Morgen erfuhr Julia in der Redaktionssitzung, dass sie von allen anderen Projekten und Terminen abgezogen war.
»Also, Leute, ihr habt es wahrscheinlich schon mitbekommen: Julia ist im Antarktis-Team«, sagte Michael. »Harry will verschiedene Beiträge vorbereitet mitnehmen, das wird dein Job sein, Julia. Um den Rest musst du dich nicht kümmern. Das Stück mit den Vollautomaten geht an dich, Rafael. Julia, bitte speichere alles, was du dazu hast, auf dem öffentlichen Redaktionslaufwerk, und wenn es noch handschriftliche Notizen geben sollte, die Rafael entziffern kann, scann sie ein. Ach, und bleib doch bitte gleich noch kurz da.«
Julia ließ ihren Blick über die Runde schweifen. War das Neid in einigen Gesichtern oder eher Mitleid? Zum Glück war sie heute früh als Erstes zu Ute gegangen und hatte sich entschuldigt. Und zum Glück war Ute von Natur aus nicht nachtragend.
Die weitere Redaktionssitzung verlief wie gewohnt – Julia war so in ihren Gedanken versunken, dass sie das Ganze nur wie durch Watte mitbekam. Themen wurden vergeben, Drehtermine angekündigt und miteinander abgestimmt. Nichts, was sie betraf.
Harry wollte verschiedene Beiträge vorbereitet mitnehmen. Was wollte der Boss denn hier in Köln vorbereiten?
»Julia? Alles okay bei dir?«
Michaels Frage riss sie zurück an den Sitzungstisch.
»Was? Jaja, bei mir ist alles okay. Wieso?«
»Weil wir längst fertig sind und du immer noch da hockst und geistesabwesend aus dem Fenster starrst.«
Gott, wie peinlich war das denn? Tatsächlich waren alle anderen bereits aufgestanden und manche schon im Begriff, den Konferenzraum zu verlassen. Michael schien ihre offensichtliche Tagträumerei eher zu amüsieren. Besser so, als wenn er mir einen Vortrag über Konzentration hält, dachte Julia.
»Hier«, Michael holte aus einer Mappe drei eng bedruckte Blätter, »das sollen alle Teilnehmer bekommen. Da ist der Zeitplan, dann eine Liste der Sachen, die du einpacken solltest. Außerdem, aber das steht auch noch mal auf Seite drei, musst du dich ärztlich untersuchen lassen. Das gehört sozusagen zu den Einreisebestimmungen. Ist praktisch wie eine Sportuntersuchung. Da ihr nur kurz in der Antarktis bleibt, wird auch nicht alles unter die Lupe genommen. Ich vermute mal, die wollen keine Blinddarmreizung oder eine Zahnwurzelentzündung in ihrer Station behandeln müssen. Ach ja, dass Sue als Produktionsleiterin dabei sein wird, weißt du sicher schon. Als Kameramann wird Roy mitfliegen. Der ist in Ordnung und hat bereits mit Harry im Außeneinsatz gearbeitet. Roy weiß, worauf der Boss Wert legt.«
Julia nahm die Papiere, widerstand aber der Versuchung, sie gleich zu lesen.
»Gut, ich werde sehen, dass ich rasch einen Termin bekomme.«
Michael drehte sich in der Tür noch einmal um. »Ich bin froh, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast, Julia. Und denk daran, für Harry ist das ein Prestigeprojekt. Er will dich übrigens in zehn Minuten oben sehen.«
Julia blieb allein im Konferenzraum zurück.
Für Harry ist das ein Prestigeprojekt – das klang verlockend und furchterregend zugleich.
Sie stand auf und legte die drei Seiten in ihr großes Notizbuch. Die würde sie sich später genau durchlesen. Jetzt war es erst einmal Zeit, herauszufinden, was genau der Boss von ihr wollte.
»Julia, ich habe das klar vor Augen.« Harry war in seinem Büro herumgewandert, jetzt stellte er sich in Positur. »Die Kamera, close auf mich, ganz nah. Ich begrüße die Zuschauer. Dafür brauche ich von Ihnen drei, vier knackige Sätze. Die sollten Spannung rüberbringen, neugierig machen, aber nicht zu viel verraten. Notieren Sie sich das ruhig. Nach der Begrüßung Kamerafahrt in die Totale.«
Julia schrieb mit und warf, als sie sicher sein konnte, dass ihr Boss gerade mal nicht hinsah, einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. Dreißig Minuten. Dreißig endlose Minuten, und sie waren immer noch bei der ersten Einstellung des ersten Einspielers. »Okay, und weiter. Was hatten wir gerade?«
»Begrüßung, vier knackige Sätze, Kamerafahrt in die Totale«, zitierte Julia.
»Richtig. Also, in der Totalen haben wir Gletscher im Hintergrund, die ganze Eiswildnis der Antarktis und zu meinen Füßen ein paar von diesen kleinen Pinguinen.«
»Ähm, Harry, das sind enorm sensible Tiere, die reagieren schon gestresst auf Menschen, wenn man nur in die Nähe ihrer Kolonie kommt, ich glaube nicht, dass wir das hinkriegen. Außerdem ist Terra Nova II mehr als einhundert Kilometer von der nächsten Pinguinkolonie entfernt.«
»Was? Ach, das sind doch nur Details. Besprechen Sie das mit Sue, die soll sich darum kümmern. Und dann brauche ich einen guten Gag, also, Sie wissen schon, so ein Augenzwinkern in der momentanen Situation. Schließlich befinde ich mich in einer tödlichen Umgebung von minus zehn Grad Celsius. Und das nur, um meine Fans zu unterhalten und zu informieren.«
»Ähm, Harry.«
»Was denn?«
»Ach, nichts.«
»Nein, bitte, sagen Sie es, Julia. Ich bestehe darauf.«
»Wir haben zwar zurzeit Sommer in der Antarktis, aber die Durchschnittstemperaturen liegen bei minus dreißig Grad.«
»Im Ernst? Und das nennen die Sommer? Na, ein Glück, dass wir nicht im Herbst oder Winter dahin müssen.«
»Es gibt nur zwei Jahreszeiten am Südpol. Und im Winter liegen die Durchschnittstemperaturen bei minus sechzig Grad. In der Antarktis befindet sich der kälteste Ort der Welt. Die russische Wostok-Station hat im Juli ’83 minus neunundachtzig Komma zwei Grad Celsius gemessen.«
»Wow, das ist gut, das ist sehr gut. Das müssen Sie unbedingt einbauen. Sie wissen schon, so ein Satz wie: ›Sie glauben, minus fünfzehn Grad Celsius wären kalt? Nun, ich wäre nicht Harry Gantman, wenn ich Sie nicht zu dem kältesten Ort der Welt bringen würde.‹ So in der Art hätte ich das gern.«
»Aber wir werden gar nicht zur Wostok-Station kommen.«
»Hören Sie mal, Julia. Ich schätze Ihre Fakten wirklich, aber Sie müssen sich ein bisschen lockerer machen. Wir haben bei der Harry-Gantman-Show eine Mission. Und diese Mission heißt: Zuschauer unterhalten. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Harry. Wir unterhalten die Zuschauer.«
»Exakt. Bestellen Sie Sue: Ich will diese Pinguine. Aber die kleinen, niedlichen. Da geht denen am Fernseher das Herz auf. So weit mitgekommen? Gut!«
Harry schaute auf seine Uhr und seufzte. »Sorry, Julia, dass ich hier unterbreche. Es gibt da noch ein Treffen mit Investoren, das ich vorbereiten muss. Morgen Vormittag bin ich unterwegs, aber entweder am Nachmittag oder übermorgen machen wir weiter. Könnten Sie schon mal weitere Ideenskizzen erstellen, erste Skripte, damit wir schneller vorankommen?«
»Geht klar, Harry.«