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PROLOG
ОглавлениеDeutsch-französische Gemeinschaftsstation AWIPEV
Ny-Ålesund/Spitzbergen
»Merde.« Pierre Remy fluchte leise vor sich hin, zog die Kapuze seines Parkas über den Kopf und stapfte durch den Schnee. Mit hochgezogenen Schultern, den Kopf nach unten gebeugt, stemmte er sich gegen die Sturmböen. Eiskristalle stachen wie Nadeln in seine Wangen.
Im Strahl der LED-Taschenlampe wurden die Schneeflocken zu einer blendend weißen Wand. Das störte ihn nicht weiter, den Weg zur Messstation kannte er auswendig. Den hätte er auch mit verbundenen Augen gefunden. Aber die Lampe diente auch seiner eigenen Sicherheit. So war er für seine Kollegen sichtbar, wie ein einsames Positionslicht mitten im grauweißen Nichts. Als Remy links von sich schemenhaft den großen Lagerschuppen auftauchen sah, wusste er, dass er fast am Ziel war. In den letzten Wochen war er diesen Weg im milchig blauen Schimmer der Polarnacht Dutzende Male gegangen.
Minus fünfzehn Grad Celsius, für eine arktische Winternacht ausgesprochen mild. Remy hatte bei seinen Forschungsarbeiten schon andere Temperaturen überstanden. Es überraschte ihn immer wieder, dass es hier oben in Ny-Ålesund bei Weitem nicht so kalt war wie beispielsweise in Alaska, wo er mehr als zwei Jahre lang gearbeitet hatte.
Markus, sein deutscher Kollege, hatte es ihm wenige Tage nach seiner Ankunft auf Spitzbergen erklärt: Der Westspitzbergenstrom sorgte auch im Winter für moderate Temperaturen. Na ja, sofern man minus fünfzehn Grad und Sturmböen der Windstärke 9 noch moderat nennen konnte, dachte Remy. Was da an seinem Parka zerrte, ihm die Eiskristalle schmerzhaft ins Gesicht trieb, waren allerdings nur noch die Ausläufer des Orkans. Der hatte drei Tage lang gewütet.
In der ersten Nacht hatte Remy bei dem Heulen des Orkans kaum geschlafen. Die Sensoren hatten Windgeschwindigkeiten von mehr als hundertsechzig Stundenkilometern registriert. Selbst seine beiden erfahrenen deutschen Kollegen hatten hier auf Spitzbergen mitten im Nordpolarmeer einen solchen Orkan noch nicht erlebt. Irgendwann am zweiten Tag war die Messstation aus ihren schweren Verankerungen gerissen und weggefegt worden. Remy wollte jetzt den Festplattenspeicher bergen, der in einem Stahlkasten im Fundament der Station untergebracht war.
Der Sturm hatte den Sockel nahezu freigelegt. Remy bückte sich und wischte mit seinem Handschuh die vergleichsweise dünne Schneeschicht auf dem Fundamentsockel zur Seite. Im Licht der Taschenlampe wirkte der orange gestrichene Deckel des Stahlkastens merkwürdig fremd. Ein bunter Farbfleck im Weiß. Sichtbares Zeichen dafür, dass es hier noch mehr gab als Kälte, Schottersteine, Eis, Schnee und Eisbären.
Eisbären! Unwillkürlich schaute er hoch und sah sich prüfend um. Jeder, der außerhalb des Dreißig-Seelen-Dorfes Ny-Ålesund unterwegs war, musste eine Waffe tragen. Das galt auch für Remy und seine Kollegen. Vorschrift war Vorschrift. Das oder eine bewaffnete Eisbärenwache. Da sie aber lediglich zu dritt das Überwinterungsteam bildeten, blieb nur die eigene Waffe. Auf die hatte Remy allerdings heute Nacht verzichtet. Ohne den Schneefall hätte er das große holzverkleidete Wohnhaus der Forschungsstation von hier aus leicht sehen können. Kein Grund zur Sorge.
Remy widmete sich wieder seiner Aufgabe. Er zog seinen schweren Fäustling aus, um den Vierkantschlüssel aus seiner Parkatasche zu fischen, entriegelte den Stahldeckel, kniete sich hin und griff in den Kasten.
Der Tod traf ihn völlig überraschend. Er hörte keinen Schuss, sah kein Mündungsfeuer. Da war nur für einen Wimpernschlag dieser alles überwältigende Schmerz. Die Kugel riss seinen Hinterkopf in Stücke. Remy war schon tot, bevor er auf den Betonsockel der zerstörten Messstation kippte. Sein Blut wurde zu einem neuen, großen Farbfleck inmitten von Eis und Schnee.
Schemenhafte Schatten in weiß-grau gefleckten Tarnanzügen folgten stumm der bereits leicht zugewehten Spur, die Remy im Schnee hinterlassen hatte.
Fünf Minuten später erschütterte eine Explosion die kleine Siedlung am Meer, übertönte für einen Moment sogar das Heulen der Sturmböen. Stichflammen erhellten die arktische Nacht, fraßen sich gierig durch Holzwände und Dächer. Ny-Ålesund hatte ein ruhiges Leben geführt. Ruhig und vorhersehbar.
Nach dieser Nacht war es nicht mehr dasselbe.