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Tag 1: Abflug Hobart/Tasmanien – Ankunft antarktischer Kontinent

Als Julia am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie eine Weile, bis ihr einfiel, wo sie war. Sie hatte tief und fest geschlafen, so tief, dass sie den Wecker auf ihrem Smartphone nicht gehört hatte. Das wurde ihr klar, als sie einen Blick auf die Uhr warf. Oh nein, in zehn Minuten sollte das Treffen unten im Konferenzraum stattfinden. Zehn Minuten – sie sprang aus dem Bett und rannte ins Badezimmer.

Zum Glück hatte sie sich die Kleidung, die sie heute anziehen wollte, schon gestern Abend vor dem Einschlafen rausgesucht, das sparte nach der Blitzdusche wertvolle Zeit. Einpacken musste sie auch nicht viel, für die eine Nacht hatte sie natürlich alles in der Tasche gelassen.

Als sie aus dem Aufzug trat, ging Sue bereits ungeduldig vor dem Konferenzraum auf und ab.

»Da bist du ja endlich. Noch zwei Minuten, und ich hätte dir deine Hotelzimmertür eintreten lassen. Wo warst du denn beim Frühstück? Nein, sag nichts, Julia. Ich weiß, du hast dir keinen Weckruf vom Hotel eingerichtet, und der Wecker auf deinem Smartphone war wieder dieses Vogelgezwitscher und das Bachplätschern. Julia, ich habe es dir gesagt, von diesem Naturgemurmel wird kein normaler Mensch wach.«

Seit Sue mal bei ihr in Godesberg übernachtet hatte, zog sie sie mit dem dezenten Weckton auf, sobald sie auch nur ein paar Minuten zu spät kam. Diesmal aber musste Julia ihrer Freundin leider recht geben.

»Ich bekenne mich in allen Anklagepunkten schuldig, Euer Ehren. Ich habe tatsächlich keinen Weckruf geordert, und ich habe mir nicht die Posaunen von Jericho auf meinem Handy gespeichert.« Julia unterdrückte ein Gähnen. »Aber ich habe dafür gebüßt, weil ich mir nicht den Bauch an dem erstklassigen Frühstücksbüfett dieses Hotels vollgeschlagen habe.«

Lächelnd drückte Sue ihr einen großen Pappbecher in die Hand. »Hier, Milchkaffee, ein Stück Zucker und sogar heiß. Als du nicht aufgetaucht bist, dachte ich mir, dass du den gebrauchen könntest. Und eine gute Nachricht: Ich habe mal in den Konferenzraum geschaut. Da gibt es ein paar Platten mit Gebäck und Croissants.«

»Wie kann ich dir, meiner Lebensretterin, danken?«

»Ändere deinen Wecker. Zum Glück ist Harry ja auch noch nicht da. Ich hätte es wirklich nicht witzig gefunden, das Vorbereitungstreffen ohne dich zu bestreiten.«

»Ich hab’s ja gerade rechtzeitig geschafft. Und Harry hat bestimmt Schlaf nachzuholen, wo er doch die meiste Zeit im Flugzeug von seinen bisherigen Außensendungen geschwärmt hat. Außerdem hat er gestern Abend in der Hotelbar mit irgendjemandem über die Antarktis und ihre Schrecken gesprochen. War nicht zu überhören.«

Sue seufzte leise. »Wenn das so ist, sollten wir uns schon mal darauf einstellen, dass wir das Briefing ohne ihn machen. Harry hat mit Sicherheit zwar kein Vogelgezwitscher auf seinem Smartphone, aber wenn unser Boss den Abend tatsächlich in weiblicher Begleitung verbracht hat, dann wird er so schnell nicht auftauchen.«

Sue kannte Harry Gantman besser als viele andere. Julia wäre es nicht im Traum eingefallen, zu widersprechen.

Ein paar Minuten und zwei Croissants später war klar: Sue sollte recht behalten. Harry, aber auch Roy tauchten nicht auf. Dafür füllte sich der Raum mit dem Rest der kleinen Truppe, die hier von Hobart aus in die Antarktis starten sollte. Sie trafen einzeln ein: eine weitere deutsche Journalistin, die für verschiedene Radiosender arbeitete, ein japanisches Kamerateam, ein Mitarbeiter der New York Times und ein freier Journalist aus Sydney.

»Einer fehlt noch, abgesehen von Harry und Roy, was ich von den beiden unmöglich finde«, raunte Sue Julia zu und tippte dabei mit ihrem Kugelschreiber auf die Namensliste in ihrer Pressemappe. »George O’Connor, Hamburg/London. Mhm, offenbar ein deutscher Fotojournalist mit britischen Wurzeln. Und mir scheint, er hat auch keinen Wecker.«

In diesem Moment betrat eine zierliche, kleine Frau den Konferenzraum. Jeans, schwere Schuhe, heller Rollkragenpulli – sozusagen Antarktis-Businesslook. Die Frau war nur knapp einen Meter sechzig groß, aber umgeben von einer Aura natürlicher Autorität, fand Julia. Und das schien nicht nur ihr aufzufallen. Beinahe schlagartig verstummten alle Gespräche im Raum.

Die Frau griff nach einem Mikrofon, klopfte kurz dagegen, um zu prüfen, ob es eingeschaltet war, und räusperte sich. »Nun, guten Morgen, Ladys und Gentlemen. Mein Name ist Anne Bergström, ich bin die Sicherheitschefin der Internationalen Antarktis-Station Terra Nova II, und ich freue mich, dass ich Sie auf Ihrer letzten Etappe –«

Das Quietschen einer Saaltür unterbrach Anne Bergström. Alle Köpfe drehten sich herum. Julia schloss genervt die Augen. Im Stillen erwartete sie, dass ihr Boss den Gang entlangkommen würde, doch da hatte sie sich getäuscht.

»Sorry, Leute, ich habe den Raum nicht gleich gefunden. Ich hoffe, ich bin noch nicht zu spät.«

Anne Bergström nahm die Unterbrechung gelassen hin, sie lächelte sogar. »Nein, ich habe gerade erst angefangen. Ladys und Gentlemen, ich darf Ihnen Ihren britischen Kollegen George O’Connor vorstellen. Setzen Sie sich doch bitte, Mr. O’Connor.«

»Na, der bietet doch mal was fürs Auge«, wisperte Sue. »Schon wahr«, flüsterte Julia zurück, »aber ich weiß verlässlich, dass er von uns und unserer Arbeit wenig hält.« Anne Bergström warf einen scharfen Blick in ihre Richtung. Sue hob erstaunt eine Augenbraue, wagte aber nicht mehr, nachzubohren. Julia musterte George O’Connor mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Er war der Fremde aus der Bar.

Julia nahm sich vor, Sue später von der gestrigen Begegnung zu erzählen. Der Flug in die Antarktis würde schließlich lang genug dauern.

Anne Bergström nahm ihren Vortrag wieder auf. »Licht aus!«, kommandierte Bergström in Richtung eines unsichtbaren Technikers, und augenblicklich reduzierte sich die Raumbeleuchtung auf ein schummeriges Dämmerlicht, während gleichzeitig eine dünne, halb durchsichtige Leinwand von der Decke herunterfuhr. Bergström nahm eine kleine Fernbedienung vom Tisch und startete eine Projektion.

Julia hielt vor Überraschung die Luft an. Einzelne erstaunte »Ahs« und »Ohs« waren zu hören.

Mitten im Raum schwebte ein futuristischer Gebäudekomplex, dank einer ausgeklügelten 3D-Projektion hatte man den Eindruck, man könne mit den Händen nach diesem Gebäude greifen. In der Luft schwebten zwei große, offenbar mehrstöckige Iglus, die mittels Gängen verbunden waren und um die sich weitere kleinere Iglus gruppierten. Wie groß der Komplex wirklich war, ließ sich unmöglich sagen, da jeder Größenvergleich fehlte. Insgesamt gab es neben den beiden großen Gebäuden noch vier kleinere.

»Das ist Ihr Ziel. Darf ich vorstellen: die Internationale Antarktis-Station Terra Nova II. Benannt nach dem Flaggschiff des großen britischen Polarforschers Robert Falcon Scott. Die Europäer, allen voran Großbritannien und Deutschland, die USA, Australien und Japan haben in diese Station investiert. Wir möchten aber betonen, dass wir für das Engagement weiterer Nationen offen sind. Natürlich betreiben die beteiligten Länder weiterhin ihre nationalen Aktivitäten in der Antarktis, aber Terra Nova II wäre als Projekt für ein einzelnes Land nicht umsetzbar gewesen. Nun, was wir dort vor Ort genau erforschen, wird Ihnen unser Stationsleiter Dr. Winston MacCullum noch im Detail erklären. Sie haben sicher Verständnis dafür, dass ich meinem Chef nicht vorgreifen möchte. In der Beziehung ist Winston so empfindlich wie jeder andere Chef.«

Vereinzeltes Lachen im Konferenzraum.

»Meine Aufgabe besteht darin, Sie sicher dorthin zu bringen und dafür zu sorgen, dass Sie wohlbehalten zurückkehren, um Ihre Geschichte schreiben zu können. Und diese Aufgabe nehme ich sehr ernst.«

»Das ist ja das Mindeste, was man erwarten darf«, murmelte Sue so leise, dass nur Julia sie verstehen konnte. Etwas an Bergströms Tonfall störte Julia, Bergström klang so ernst und entschlossen, als wäre die Gruppe dabei, in ein Krisengebiet zu reisen, wo es von Aufständischen nur so wimmelte. Das gefiel ihr gar nicht. Die Erklärung lieferte die Sicherheitschefin auch prompt nach.

»Leider mussten wir in den letzten Wochen unsere Sicherheitsvorkehrungen deutlich erhöhen. Sie alle haben von den schrecklichen Anschlägen der jüngsten Zeit gehört. Wir fürchten, dass Terra Nova II ein – nun, ich nenne es mal – Objekt der Begierde sein könnte. Ich kann Ihnen aber versichern, dass mein Team und ich alles tun werden, damit Ihr Aufenthalt bei uns sicher und im Sinne Ihrer Arbeit erfolgreich sein wird.«

Irgendjemand im Konferenzraum klatschte Beifall. In dem abgedunkelten Raum war nicht auszumachen, woher der vermeintliche Applaus kam, aber das Ganze klang wie ein ironischer Kommentar zu dem, was Anne Bergström gerade gesagt hatte.

Julia hatte den Eindruck, dass die Sicherheitschefin ähnlich dachte, denn ihr Tonfall verlor deutlich an Herzlichkeit.

»Wir werden in einer Stunde mit dem Shuttlebus zum Flughafen fahren, bitte seien Sie pünktlich. Es gibt in dieser Woche nur den einen Flug, und nach der Landung sind wir schließlich noch nicht am Ziel.«

Auf der Leinwand wechselte das Bild. Anstelle der Station schwebte jetzt ein schmales schwarzes Armband mitten im Raum.

»Was Sie hier sehen, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Sicherheitsvorkehrungen. Ihnen allen wird gleich beim Verlassen des Konferenzraums ein Armband ausgehändigt. Ich möchte Sie bitten, Ihr Armband während Ihres gesamten Aufenthalts in Terra Nova II zu tragen. Und zwar Tag und Nacht, es ist stoßunempfindlich, absolut wasserdicht und antiallergen.«

»Und was kann das Ding?« Der Mitarbeiter der Times war aufgestanden, um seine Frage zu stellen.

»Das Ding«, Bergström betonte das Wort Ding überdeutlich, »sichert Ihr Überleben. Wir haben innerhalb und außerhalb der Station ein Netzwerk von Sensoren installiert. Das Armband ist im Grunde GPS-Tracker, Fitnessuhr und digitale Zugangskarte in einem Gerät. Es übermittelt Ihre Position, Ihre Pulsfrequenz und die Körpertemperatur. Niemand kann ohne dieses Armband die Station betreten, einzelne sicherheitsrelevante Bereiche der Station sind darüber hinaus gesondert geschützt, da kommen Sie auch mit diesem Armband nicht hinein. Und sollten Sie sich außerhalb der Gebäude aufhalten, zum Beispiel zu Dreharbeiten, wissen wir, wo wir Sie suchen müssen. Glauben Sie mir, inmitten von Eis und Schnee sieht eine Schneekuppe wie die andere aus, bei uns haben sich schon Mitarbeiter verirrt, die nur knapp außerhalb der Sichtweite der Station waren. Damit aber«, Bergström nickte in Richtung Armband, »finden wir Sie, bevor Sie bei minus dreißig Grad für immer in der Antarktis bleiben.«

Mit nachdenklichem Gesicht setzte sich der Mann wieder auf seinen Platz. Julia schluckte trocken. Die Panik, die sie in den letzten Tagen erfolgreich unterdrückt hatte, brannte wieder heiß in ihrem Magen. Das schwarze Armband hatte die Gefahr mitten in den Konferenzraum geholt. Ihre Hände zitterten. Sie nahm sie eilig unter den Tisch, damit Sue das Zittern nicht bemerkte.

Bergström fuhr fort. »Die Anschläge der letzten Wochen sind Ihnen allen vielleicht surreal erschienen, bloß Nachrichtenmeldungen, ohne Bedeutung. Aber wir nehmen das alles sehr ernst.«

Sie schwieg und ließ ihren Blick ruhig über die Anwesenden wandern. »Ich denke, das war erst einmal alles. Am Ausgang finden Sie Ihr persönlich codiertes Armband. Wir haben die Schachteln mit Ihren Namen versehen. Am besten, Sie legen Ihr Armband gleich an, damit es nicht verloren geht. Und noch ein guter Rat: Denken Sie daran, dass Sie Ihre warmen Jacken aus den Koffern holen und im Flugzeug greifbar haben. Da, wo wir landen, wird es keinen beheizten Terminal zum Auspacken und Umziehen geben. Arktis-Schutzkleidung für die kommenden Tage steht Ihnen später in Terra Nova II zur Verfügung. Und noch einmal: Seien Sie bitte pünktlich, ich möchte nur ungern auf einzelne Teilnehmer warten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.«

Hab ich mir das nur eingebildet, oder hat die Sicherheitschefin gerade in Sues und meine Richtung geschaut?, fragte sich Julia. Dass Harry nicht im Saal war, musste Bergström doch auch aufgefallen sein. Zum flauen Gefühl im Magen gesellte sich auch noch eine peinliche Verlegenheit. Herzlichen Dank, Harry!

»Entschuldigung, Sie müssen Susanne Reinhard und Julia Kern sein, nicht wahr?«

Die beiden Frauen drehten sich bei dieser Frage um. Lächelnd kam Anne Bergström auf sie zu.

»Ihr Chef, Harry Gantman –«

»Es tut mir schrecklich leid, ich kann leider auch nicht sagen, was Mr. Gantman davon abgehalten hat, zu Ihrem Briefing zu kommen«, beteuerte Sue.

Bergström schüttelte den Kopf. »Darum geht es gar nicht. Mr. Gantman hat mich vorher schon informiert, dass er zusammen mit seinem Kameramann noch erste Dreharbeiten unten am Hafen umsetzen muss. Es soll der Einstieg in seine geplante Sendung werden. Er hat nur darum gebeten, dass Sie die Unterlagen mitbringen, und er lässt Ihnen ausrichten, dass er direkt zum Flughafen kommen wird.« Anne Bergström hielt Sue eine Mappe und zwei beschriftete Schachteln entgegen. »Hier, bitte, erinnern Sie die beiden unbedingt daran, die Armbänder anzulegen.«

Sue nahm die Schachteln und Julia die zusätzliche Mappe.

»Natürlich, das machen wir doch gerne«, versicherte Julia.

Bergström nickte. »Wir sehen uns dann gleich beim Bus.«

Als die Sicherheitschefin außer Hörweite war, fragte Julia ungläubig: »Harry ist schon auf den Beinen, und er dreht bereits?«

»Ich kann es kaum glauben. Obwohl, ich hatte Roy auch schon vermisst«, erwiderte Sue. »Aber als seine Regisseurin müsste ich eigentlich wissen, was wir zu drehen haben. Von irgendwelchen Aufnahmen am Hafen war nie die Rede. Harry baut ja immer noch auf die Pinguine für den Teaser. Einstiegssequenz – von wegen. Ich wette mit dir um eine große Lasagne bei Vittorio, dass Harry einfach nur ausschlafen wollte und jetzt mit Roy gemütlich seinen Kaffee in der Morgensonne schlürft.«

»Vittorio« am Chlodwigplatz war Sues Lieblingsitaliener in Köln. Wenn sie so eine Wette aussprach, war sie sich ihrer Sache sehr sicher, dachte Julia. Julia hatte Harry Gantman gut genug kennengelernt, um nicht dagegenzuhalten. Die Wette würde sie garantiert verlieren.

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