Читать книгу Tiefenzone - Andreas J. Schulte - Страница 7
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ОглавлениеFünfzehn Stunden vorher …
»Das wird das größte Abenteuer deines Lebens, Julia. Ich verspreche es dir.«
Julia schaute Michael Beller, ihren Redaktionsleiter, misstrauisch an. »Und wer sagt dir, dass ich auf der Suche nach dem größten Abenteuer meines Lebens bin?«
»Sehr witzig, Frau Kern. Ich wollte ja nur zuvorkommend sein und nicht gleich den Boss raushängen lassen. Aber bitte – es geht auch anders.« Beller räusperte sich, bevor er in gespielt ernstem Tonfall sagte: »Frau Kern, ab zum Chef. Es geht um eine ganz große Sache. Alles andere erfahren Sie im fünfzehnten Stock. Na los – hopp, hopp, Harry wartet schon.« Beller grinste. »Und, besser so?«
Julia lachte. »Nee, lass mal, da war mir das mit dem Abenteuer schon lieber. Kannst du denn nicht verraten, worum es geht?«
»Nein, kann ich nicht, aber das wird ein ganz großes Ding.« Der Redaktionsleiter machte ein Gesicht, als hätte er gerade erfahren, dass das Finale der Champions League und Weihnachten auf einen Tag fielen. »Wie gesagt, Harry will dich in seinem Büro sehen, er wird dir alles erklären.«
Julia nahm ihr Notizbuch und ihren Füller. Sie spürte die neugierigen Blicke von den anderen Schreibtischen, die sagten: Warum will der Chef ausgerechnet die Neue sehen? Was kann die, was ich nicht kann?
Julia ignorierte das alles und lächelte unverbindlich, während sie durch das Großraumbüro, in dem sie eine winzige Arbeitsnische besaß, zu den Aufzügen ging. Ihre Nische reichte gerade für einen kleinen Schreibtisch mit Laptop, einem Telefon und ein paar Aktenordnern. So war das hier im Gantman-Tower. Wer neu dazukam, musste sich hocharbeiten, bekam einen größeren Schreibtisch und vielleicht irgendwann einmal ein eigenes Büro. Dann hatte man es definitiv geschafft.
Auf dem Flur kam ihr Susanne Reinhard – von allen nur kurz Sue genannt – entgegen.
»Na, musst du nicht brav am Schreibtisch sitzen und für den neuen Vergleichstest der Espressomaschinen recherchieren?«, fragte Sue mit einem breiten Lächeln.
»Wer weiß, ob ich dir deinen Vergleichstest überhaupt noch schreiben kann. Michael hat mich gerade losgeschickt. Harry Gantman will mich sprechen.«
Julia sah, wie Verblüffung das Lächeln in Sues Gesicht ablöste.
»Im Ernst? Harry will dich sehen? Das ist ja super, dann bist du also auch dabei. Mensch, ich freu mich.«
»Ähm, Sue.«
»Ja?«
»Wo bin ich dabei?«
Sue lachte auf. »Ich und mein vorschnelles Mundwerk. Nee, das soll dir unser Boss selber verraten. Ich habe als Regisseurin und Produktionsleiterin schließlich Verantwortung für so junges Gemüse wie dich.«
Julia streckte Sue kurz die Zunge raus und drückte dann den Aufzugknopf.
Junges Gemüse, von wegen, dachte Julia. Tatsächlich war Sue nur vier Monate älter. Allerdings hatte sie schon vor fünf Jahren bei Harry Gantman angefangen und war mittlerweile Produktionsleiterin – eigenes Büro inklusive.
»Sehen wir uns heute Abend beim Sport in Beuel?«, fragte Julia über die Schulter hinweg.
Sue blieb kurz stehen und drehte sich um. »Klar, lass uns ordentlich ins Schwitzen kommen, und dann will ich alle Details bei einem dieser sündhaft köstlichen Cocktails in Bernies Bar erfahren.«
»Abgemacht!«
Julia stieg in den Aufzug. Auf dem Weg in den fünfzehnten Stock wunderte sie sich einmal mehr, wie schnell sich ihre Freundschaft mit Sue entwickelt hatte. In den ersten zwei Wochen, nachdem sie bei Harry Gantman angefangen hatte, war Sue diejenige gewesen, die ihr die Abläufe erklärt hatte. Ihre interne Firmenpatin sozusagen. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich Sue nie das Gefühl gegeben habe, ich wäre scharf auf ihren Job, dachte Julia. Alle weiteren Überlegungen verschob sie auf später. Ein leiser Gong signalisierte, dass sie die gewünschte Etage erreicht hatte – das Allerheiligste, Harry Gantmans privates Büro.
Das Großraumbüro lag im ersten Stock, der fünfzehnte war der Olymp. Julia wurde von einer Sekretärin, die sie nur vom Sehen her kannte, in ein Büro geführt, das die halbe Etage einnahm. Himmel, dachte Julia, dieses Büro ist mindestens viermal so groß wie mein Apartment in Godesberg oder Sues Wohnung in Tannenbusch.
Auf drei Seiten boten die bodentiefen Fensterscheiben einen atemberaubenden Blick über den Rhein und die Kölner Altstadt samt Dom.
Der »Gantman-Tower«, wie das Gebäude intern mit einer Mischung aus Spott und Stolz genannt wurde, war sicher nicht das höchste Haus in Köln. Aber im Gegensatz zu anderen Medienunternehmen hatte Harry Gantman nicht ein gesichtsloses Industriegebiet für seinen Firmensitz gewählt, sondern bewusst das ehemalige Versicherungsgebäude am Zoo mit Nähe zur Innenstadt. Gantman wollte Teil von Köln sein, jeder sollte »Gantman-TV-Produktion« in großen Leuchtbuchstaben auf dem Dach sehen können. Da kam der stolze Amerikaner in ihm durch, der allen zeigen wollte, dass er es geschafft hatte.
Der Ausblick von hier oben lohnte sich, das musste Julia neidlos zugeben. Der Rhein glitzerte in der Mittagssonne, ausnahmsweise war heute mal ein klarer Novembertag, das trübgraue Wetter der letzten Tage verschwunden. Julia konnte das Rheinufer sehen, wo sie am letzten Freitag direkt nach der Arbeit ihre Trainingsrunde gelaufen war. Jetzt, wo es immer früher dunkel wurde, wollte sie nicht durch einen schlecht beleuchteten Park in Bad Godesberg stolpern, da war ihr das hell erleuchtete Rheinufer lieber. Auch wenn das bedeutete, dass sie ihre Sportsachen mit zur Arbeit nehmen musste.
Julia schaute sich in dem großen Raum um.
Ein Teil der hinteren Wand war mit Fotos übersät. Neugierig trat sie näher. Die Fotos zeigten alle dasselbe Motiv: Harry Gantman, gut gelaunt, das schwarze, volle Haar zur Seite gekämmt, ein strahlendes, makelloses Lächeln. Was wechselte, waren die Kulissen. Harry auf einem Tempelfelsen im Dschungel Mexikos – von der Geschichte hatte sie schon gehört. Harry in Taucherausrüstung, wahrscheinlich vor der Unterwasserdokumentation in Caesarea, Harry vor einer Pyramide. Und natürlich die Promi-Fotos. Harry mit Günther Jauch, Markus Lanz, Til Schweiger, an der Seite von Anne Will. Es gab sogar einen Schnappschuss mit Angela Merkel. Harry Gantman, ein Meister der inszenierten Augenblicke. Trophäen eines Lebens voller Erfolge. Trophäen im Format dreizehn mal achtzehn.
»Gefällt Ihnen, was Sie da sehen, Julia?«
Julia fuhr herum. Harry Gantman stand breit lächelnd hinter ihr, und irgendwie fühlte sie sich ertappt.
»Schön, dass Sie so schnell Zeit gefunden haben. Setzen Sie sich doch.« Harry Gantman wies auf ein paar tiefe Ledersessel.
»Sie sind der Boss, Sie wollten mich sehen, da bin ich.«
Gantman lachte auf. »Eine tolle Einstellung, die mag ich. Julia, ich habe mir Ihren Lebenslauf angesehen. Geboren in Boston, aufgewachsen in Deutschland. Doppelte Staatsbürgerschaft, Studium, Abschluss mit Spitzennoten. Sie haben schon während des Studiums für die ARD gearbeitet, waren sogar ein halbes Jahr in Washington. Das Zeugnis, das Ihnen die Kollegen ausgestellt haben, liest sich geradezu euphorisch. Trotzdem sind Sie nicht bei den Öffentlich-Rechtlichen geblieben, sondern haben bei uns angefangen. Sozusagen ganz unten, haben sich durchgebissen.«
Durchgebissen, das klang ja so, als hätte Harry extra fürs Großraumbüro einen Drillsergeant aus der U.S. Army engagiert. Julia ließ sich ihre Belustigung jedoch nicht anmerken.
»Was ich sagen will: Mir gefällt die Kombination in Ihrer Vita«, fuhr Gantman fort, »eine junge Naturwissenschaftlerin, die sich im TV-Business auskennt. Solche Frauen wie Sie, Julia, brauch ich in meinem Team.«
Worauf lief das alles hier nur hinaus? Wenn Julia in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann, dass man einfach fragen sollte, statt herumzurätseln.
»Warum wollten Sie mich sprechen, Herr Gantman?«
»Herr Gantman? Ich bitte Sie. Harry, sagen Sie bitte Harry, wir sind hier schließlich eine große TV-Familie.«
Da war er wieder, der typische Amerikaner. Harry Gantman, der joviale Boss. Gantman sprach immer noch mit leichtem amerikanischen Akzent. Möglicherweise wurde der sogar kultiviert, sozusagen als akustisches Harry-Gantman-Markenzeichen. Mit einer kurzen Bewegung zupfte Gantman seine Manschetten zurecht, die unter dem dunkelblauen Jackett hervorschauten. Julia kam sich in ihren Jeans und dem Rollkragenpulli plötzlich unpassend gekleidet vor.
Sie holte tief Luft. »Also gut, Harry, warum wollten Sie mich sprechen? Ich arbeite schließlich schon fast ein Jahr in Ihrer Firma und –«
»Und bislang hatten wir noch keine Gelegenheit, uns persönlich auszutauschen. Das stimmt, Julia. Aber Sie haben in Ihrem Lebenslauf etwas stehen, das niemand sonst unten in der Redaktion vorweisen kann. Sie haben während Ihres Biologiestudiums drei Monate in der Arktis gearbeitet.«
Julia hatte mit einem Mal ein flaues Gefühl im Magen. Drei Monate Arktis – warum war das hier in Köln plötzlich wichtig?
»Ich glaube, ich verstehe immer noch nicht, Harry. Ja, ich bin wirklich in der Arktis gewesen, ich habe dort mit dem Alfred-Wegener-Institut zusammengearbeitet, aber das ist sechs Jahre her.«
Sechs Jahre. Noch lieber wären mir sechzig.
Harry machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sechs Jahre, egal. Fakt ist, Sie haben Arktis-Erfahrung, Sie wissen, wie man in dieser Eishölle überlebt. Es sind die Fakten, die hier bei uns zählen.«
Aus dem flauen Gefühl war mittlerweile ein fester Knoten geworden. Am liebsten wäre Julia aufgestanden und hinausgerannt. Sie wissen, wie man in dieser Eishölle überlebt – Harry Gantman hatte ja keine Ahnung.
»Meine Show, sorry, ich meinte unsere Show, hat die Einladung bekommen, zusammen mit ein paar anderen Journalisten dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird.«
»Geschichte? In der Arktis?«
»Oh nein, nicht in der Arktis. Es geht in die Antarktis. Wir werden die neue Internationale Antarktis-Station Terra Nova II besuchen. Wir werden das erste Fernsehteam der Welt sein, das live vom Nordpol –«
»Südpol, Sie sagten ja, es geht in die Antarktis«, rutschte es Julia heraus. Sie biss sich sofort auf die Lippen.
»Stimmt, hab mich versprochen.« Harry schien über ihren Einwurf nicht verärgert zu sein. »Also, wir werden eine einzigartige Harry-Gantman-Show dort unten produzieren. Inmitten von blutrünstigen Eisbären, umgeben von Eis und Schnee.«
Julia verkniff sich den Einwand, dass in der Antarktis keine Eisbären lebten. Das würde Harry noch früh genug erfahren.
»Ich sehe, die Idee gefällt Ihnen, Julia. Also, in gut vierzehn Tagen geht es los. Harry Gantman wird die Antarktis erobern, und Sie gehören jetzt zum Team.«
»Harry, ich kann … leider … also, ich –«
»Ich weiß, das kommt jetzt alles etwas überraschend, aber das ist doch das Großartige an unserem Business. Wir wissen heute noch nicht, was uns morgen erwartet. So, und nun müssen Sie mich leider entschuldigen, ich hab doch noch ein paar wichtige Anrufe vor der Brust.«
Julia stand auf und ging wie ferngesteuert aus dem Büro zurück zum Aufzug. Als sie allein in der Kabine stand, kamen das Zittern und der Schweißausbruch. Sie presste die Augen zu und ballte die Fäuste.
Wir wissen heute noch nicht, was uns morgen erwartet.
Falsch. Julia wusste genau, was sie erwartete: das Grauen.