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ОглавлениеVor dem Westeisschelf/Antarktis
»Hallo, hier spricht Jake Paulsen, Ihr Kapitän. Wir werden jetzt mit dem Landeanflug beginnen, wenn Sie also einen Blick auf die ersten Eisberge Ihres Lebens werfen wollen, empfehle ich Ihnen einen Sitzplatz am Fenster. Wie ich von meiner Kollegin gehört habe, gibt es noch einzelne freie Plätze an den Fenstern. Auf dem Rückflug werden wir zusätzliche Passagiere an Bord haben, die der Antarktis den Rücken kehren wollen. Also, Ladys und Gentlemen, nutzen Sie die Gelegenheit. Wir haben eine Landegenehmigung von der Casey-Forschungsstation erhalten. Das Wetter ist stabil, auf unserem Landeplatz herrschen zurzeit Temperaturen von minus fünfzehn Grad Celsius beziehungsweise fünf Grad Fahrenheit. Sie sollten sich also trotz des milden Wetters Ihre warmen Jacken vor dem Aussteigen überziehen. Ich verzichte an dieser Stelle auf die üblichen Floskeln, denn ich weiß, dass wir uns alle wiedersehen werden, weil ich auch für Ihren Rückflug eingeteilt worden bin. Genießen Sie die verbleibende halbe Stunde hier an Bord unserer Maschine, lassen Sie sich einen letzten Drink servieren. Den sollten Sie allerdings vor der Landung ausgetrunken haben, denn das Ganze könnte ein wenig holprig werden. Dafür möchte ich mich jetzt schon mal im Voraus entschuldigen. Aber keine Sorge: Runter sind wir bislang immer gekommen.«
Julia seufzte gequält. Piloten-Humor, darauf konnte sie gut verzichten. Um sie herum erwachte die Kabine zum Leben. Diejenigen, die in den letzten Stunden vor sich hin gedöst hatten, setzten sich gerade auf, einige rieben sich verschlafen die Augen. Die Übrigen beendeten, was auch immer sie getan hatten. Manche wechselten die Plätze, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Wie der Pilot bereits festgestellt hatte, gab es genügend Möglichkeiten, weil höchstens die Hälfte der Sitzplätze belegt war. Julia saß bereits am Fenster, doch noch flog die Maschine zu hoch. Außer Wolken gab es da draußen nichts zu sehen. Minuten später begann das Flugzeug zu sinken und tauchte in eine dichte Wolkendecke hinein, die jegliche Sicht raubte. Als würde man sich kopfüber in ein graues Nichts stürzen.
»Da, seht ihr das? Oh mein Gott, ist der groß.«
Julia konnte zwar nicht genau zuordnen, wer sich da für den ersten Eisberg begeisterte, aber sie wusste, der Eisberg oder besser gesagt die Eisspitze war nur der erste Vorgeschmack auf das, was alle in Kürze zu sehen bekämen.
Das bleigraue Meer war aufgewühlt, sah aus, als würde es kochen. Nach der ersten Eisspitze kamen riesige Eisberge, gegen die meterhohe Wellen mit weißen Schaumkronen brandeten. Die Begeisterungsrufe verstummten, ein ehrfurchtsvolles Staunen breitete sich in der Kabine aus.
Die australische Forschungsstation lang unterhalb der Vincennes Bay, sozusagen als Vorposten in Wilkesland. Das australische Territorium war nach Charles Wilkes benannt, einem US-amerikanischen Polarforscher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So viel wusste Julia durch ihre Recherchen im Internet. Was man im Netz nicht erfuhr, war die ungezähmte Kraft, mit der die Natur hier wütete. Was hatte Männer wie Wilkes dazu bewogen, jahrelange lebensgefährliche Expeditionen auf sich zu nehmen, um diesen unwirtlichen Teil der Welt zu erforschen? So wie sie hier saß, in der warmen Kabine, auf ihrem bequemen Fensterplatz, einen letzten Drink in der Hand, konnte Julia sich die Entbehrungen und Anstrengungen jener Polarforscher nicht einmal im Ansatz vorstellen.
Es würde nicht mehr lange dauern, dann wäre es so weit. Sie würden mitten in der Antarktis landen. Das war nicht nur eine Ankündigung, ein Plan, eine vage Idee, die in der Redaktion ausgearbeitet worden war, das hier war echt. Galle stieg ihr sauer die Kehle hoch. Rasch trank sie einen Schluck, um den widerlichen Geschmack wegzuspülen. Ihr Augenlid zuckte immer heftiger. Julia blinzelte dagegen an.
Michaels Ausspruch fiel ihr wieder ein: »Das wird das größte Abenteuer deines Lebens, Julia.«
Auf keinen Fall!
Aber da war auch noch ein anderes Gefühl. Der Wunsch, endlich, nach den langen Vorbereitungen und der endlosen Anreise, anzukommen.