Читать книгу Tiefenzone - Andreas J. Schulte - Страница 14
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ОглавлениеEin Apartment in London/Großbritannien
Die Töne perlten durch den großen, beinahe leeren Raum. Ein enorm schnelles Solo, während im Hintergrund verhalten, fast schüchtern die Streicher einen Klangteppich schufen, auf dem dieses Klaviersolo strahlen konnte. Der Doc schloss genüsslich die Augen und konzentrierte sich ganz auf die Musik.
»Wir müssen reden, Doc!«
Der Angesprochene holte tief Luft, ließ aber die Augen weiterhin geschlossen. Reglos saß er da, nur die Finger beider Hände spielten einzelne Noten auf den Sessellehnen mit.
»Wir wollen nicht mehr länger warten. Hörst du überhaupt zu?«
Ja, er hörte zu. Er hörte nur zu gut. Da war diese Stimme, die es wagte, in das Solo von Mozarts Klavierkonzert in d-Moll hineinzusprechen. Ordinär und ungehobelt hineinzupoltern in das, was Christopher Park so meisterhaft aus dem Konzertflügel hervorzauberte.
»He, Doc!«
Die tanzenden Finger ballten sich zur Faust. Die einzige Regung in dem schlanken, aber durchtrainierten Körper. Eine Regung, die auch eine Warnung war, man musste sie nur zu deuten wissen.
Erik hatte dafür leider keinen Blick, völlig unwissend stolperte er in sein Verderben.
Mit einem kurzen Druck auf die Fernbedienung stoppte der Doc die CD. In die plötzliche Stille hinein sagte er sanft: »Bereits einen Tag nach der Fertigstellung wurde das Klavierkonzert in d-Moll uraufgeführt, wobei Mozart selbst den Solopart übernahm. Damals war er kein Wunderkind mehr, sondern neunundzwanzig Jahre alt. Sechs Jahre später war Mozart schon tot. Ein wunderbares Konzert. Hatte ich nicht gesagt, dass ich in den nächsten zwei Stunden nicht gestört werden möchte? Doch, ich bin mir sicher, ich hatte das gesagt.«
»Schon klar. Aber ich will jetzt wissen, wie es weitergeht. Wir haben uns besprochen. Die Leute sind wach, die Zeitungen und Fernsehsender haben begriffen, dass es uns gibt. Den Regierungen geht der Arsch auf Grundeis, die haben gecheckt, dass wir eine Gefahr für sie sind. Jetzt müssen wir noch einen drauflegen, jetzt ist die Zeit, unsere Forderungen zu veröffentlichen. Die Welt soll wissen, was wir wollen.«
Der Doc hätte fast gelächelt. Wenn Aktivisten, die die Polregionen schützen wollten, davon sprachen, dass anderen »der Arsch auf Grundeis« ging, hatte das eine gewisse Komik. »Fast lächeln« war bei ihm schon ziemlich weit oben auf der Skala.
»So, das alles habt ihr besprochen? Ohne mich, ohne den Kopf, der das alles erst möglich gemacht hat? Und die Übrigen in unserer Gruppe haben dich zum Sprecher ernannt, oder was?«
Erik, der mit seinen ein Meter fünfundneunzig und den breiten Schultern eines Bodybuilders jeden Türrahmen ausfüllte, trat bei der Frage verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Na ja, was heißt hier Sprecher? Ich meine, wir alle wollen doch, dass wir vorankommen.«
Das klang mehr nach Rückzug als nach Angriff.
Der Doc erhob sich aus seinem Sessel und trat näher an Erik heran, der ihn um fast einen halben Kopf überragte. »Soll das bedeuten, dass ihr nicht mehr daran glaubt, dass ich einen Plan habe? Wollt ihr es lieber selbst versuchen?«
Die Fragen waren beinahe geflüstert, aber Erik zuckte zurück, als hätte man sie ihm ins Gesicht gebrüllt. Dann straffte er die Schultern. »Auf jeden Fall werden wir jetzt weitermachen, egal, was du sagst.«
Der Doc nickte bedächtig. Er war jemand, der stets genau abwog, was er tun und sagen wollte. Der Schlag seiner rechten Hand kam ohne Vorwarnung. Kein Ausholen mit dem Arm, nur ein Stoß aus der Hüfte, die flache Hand gerade nach oben, direkt auf die Nase. Bei seinem täglichen Training zertrümmerte der Doc mit diesem Schlag Bretter. Alles nur eine Frage von Geschwindigkeit und Kraft. Das Nasenbein eines Menschen ist viel empfindlicher als ein Brett. Der Schlag brach den Knochen, Blut spritzte aus der Nase.
Es war ein Ammenmärchen, dass das Nasenbein auf diese Weise todbringend ins Gehirn getrieben würde. Das war auch gar nicht nötig, denn noch bevor Erik reagieren konnte, stand der Doc hinter ihm. Ein Tritt in die Kniekehle, ein Hieb an die Schläfe. Der große Mann fiel auf die Knie, kippte seitlich um.
Der Doc setzte sich zurück in seinen Sessel und stellte die Musik wieder an. Aber er konnte Mozarts Komposition nicht mehr genießen. Missbilligend schüttelte er den Kopf und lehnte sich zurück. Zwei Stunden Ruhe, war das denn zu viel verlangt gewesen? Er seufzte schwer. Er wollte sowieso von hier verschwinden, Eriks Auftritt und das Aufbegehren der anderen hatten den Zeitplan nur beschleunigt. Er würde dem Apartment, Erik und den Übrigen den Rücken kehren. Für seine neue Aufgabe hatte er bereits ein anderes Team zusammengestellt. Für jede Aktion ein neues Team, niemand kannte die jeweils anderen. Teile und herrsche.
Das Blut auf dem Teppich war ärgerlich, aber dieses Apartment war nur vorübergehend gemietet. Sollte sich doch der Wohnungsbesitzer über die Sauerei aufregen. Der Doc schloss die Augen. Seine Finger tanzten vergeblich über die Lehnen, die Musik erreichte sie nicht mehr. Es war Zeit, aufzubrechen.
Niemand in der Gruppe wusste, warum alle den Doc nur Doc nannten. Dabei hätten sie nur fragen müssen, er hätte es ihnen erzählt. Er hätte ihnen von dem Jungen erzählt, der sich selbst mit drei Jahren das Lesen und mit vier Jahren das Schreiben beigebracht hatte. Der Junge, der herumgeschubst wurde, weil er klüger war als alle anderen zusammen. Sogar seine ältere Schwester hatte sich über ihn lustig gemacht. Als sie achtzehn war und er gerade mal fünfzehn, zog sie ihn wegen seiner Pickel auf. Gegen die Pickel konnte er nicht viel tun, aber das heimliche Kampfsporttraining half ihm dabei, sich gegen ältere, vermeintlich stärkere Gegner durchzusetzen. Gegen seine ständig stichelnde Schwester musste er nicht kämpfen. Seine Schwester ließ er einfach verbrennen. Der Brandsatz, den er in ihrem alten Golf versteckte, war so wirksam, dass am Ende nur noch ein Klumpen geschmolzenes Metall übrig war. Ende vom Golf. Ende der Pickel-Witze.
Der Doc erinnerte sich noch an die Polizisten, die seine Eltern besucht hatten, an den Zusammenbruch der Mutter, die verzweifelten Tränen des Vaters. Wenn er Sorgen hatte, waren sie nie so verzweifelt. Der Doc behielt das in Erinnerung. Mit sechzehn Jahren machte er Abitur, mit achtzehn Jahren verschwand er. Er plünderte das Bankkonto der Eltern und tauchte unter. Studierte Physik und Biologie. Damals wurde er zum ersten Mal Doc genannt. Das Studium war rascher vorbei, als ihm lieb war. Der Name blieb. Er war klüger als die meisten Menschen, und er war schneller als sie. Vor allem aber – er interessierte sich für niemanden. Die anderen waren Ameisen. Sie konnten ihm nicht mehr schaden, ihn herumschubsen, ihn lächerlich machen. Er aber konnte sie einfach mit seinem Schuh zertreten.
Und noch etwas wurde ihm klar: Wenn er Veränderungen wollte, musste er handeln. Er suchte sich Verbündete, die seine Ideale und Ziele teilten. Der einst schmächtige Junge hatte seine Bestimmung gefunden.
Die letzten Akkorde des Orchesters erfüllten den Raum. Der Doc öffnete die Augen. Es war Zeit. Auf dem Tisch stand ein Laptop, die Verschlüsselungssoftware hatte er eigenhändig geschrieben. Jedes Telefonat, das er über den Computer führte, war absolut abhörsicher. Er wählte eine Nummer.
»Morgen, zehn Uhr, ich möchte, dass alle sechs dabei sind.«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern beendete das kurze, einseitige Telefonat gleich wieder.
Der einzige Luxus, den das Apartment bot, waren die Stereoanlage und ein Wandtresor. Aus dem Tresor holte er einen USB-Stick und lud ein letztes Mal die Daten auf den Computer. Seine Planung war makellos, daran gab es keinen Zweifel. Aber Michelangelo hatte sich bestimmt seinen David auch mehr als einmal angesehen. Der Plan war sein persönlicher David. Die zwingend notwendige vierte Stufe.
Auf dem Monitor baute sich ein großer Gebäudekomplex als dreidimensionales Modell auf, das er mit Hilfe der Maus in alle Richtungen drehen und bewegen konnte.
Das Ganze sah aus wie die Kreuzung aus einem Iglu und einer futuristischen Raumstation auf einem fernen Planeten.
Der Komplex hatte einen Namen: Terra Nova II.