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White Ice Runway/Antarktis

Der Bau des White Ice Runways mochte zwar fünfunddreißig Millionen Dollar gekostet haben, man sah es der Landebahn aber nicht an. Um ehrlich zu sein, Julia sah überhaupt nichts. Der Pilot hätte für sie einen beliebigen Gletscher anfliegen können, es hätte genauso ausgesehen. White Ice Runway – die Bahn machte ihrem Namen alle Ehre. Da draußen war nichts als weißes Eis. Zerklüftete, bizarre Eisbrocken. Und darauf sollte ein Flugzeug gefahrlos landen? Das konnte unmöglich gut gehen, dachte Julia entsetzt. Da war doch nichts: keine Positionslichter, keine Landebahnmarkierungen, keine Vorfeldfahrzeuge. Noch während sie angestrengt nach einem Anzeichen von Zivilisation suchte, setzte das Flugzeug mit einem harten Stoß auf. Es rumpelte, dann ertönte das vertraute Geräusch der Bremsen, und die Maschine wurde abrupt langsamer. Vielleicht waren die fünfunddreißig Millionen doch gut angelegt worden …

Ein paar Reihen weiter klatschte das japanische TV-Team begeistert Beifall, und ein Großteil der Fluggäste fiel in den Applaus mit ein.

»Na, haben Sie sich Ihre Ankunft in der Antarktis so vorgestellt?«

Julia riss sich vom Anblick der riesigen Eisflächen und des unwirklich blauen Himmels los und schaute zur Seite. George O’Connor lächelte ihr zu. »Sorry, ich wollte Sie nicht stören, nur meine Daunenjacke ist hier oben in der Ablage und … na ja, Sie haben so interessiert nach draußen geschaut. Ist anders als alles, was man so kennt, nicht wahr? Da kommt der Winter in Deutschland nicht mit.«

Hätte er den letzten Satz nicht in diesem süffisanten Ton gesagt, hätte Julia sicher nicht so schnippisch reagiert. So aber erwiderte sie: »Ich weiß ja nicht, wo Sie schon überall waren, Mr. O’Connor. Aber ich habe mehrere Monate in der Arktis geforscht und gearbeitet. Und so viel anders sah das da nicht aus.«

Sie bildete sich auf ihre Arktis-Erfahrung gar nichts ein, aber dieser Mann brachte sie dazu, sich ständig zu verteidigen. Das musste aufhören.

»Hoppla, da haben wir ja eine Expertin im Team. Werde ich mir merken.« O’Connor ließ den zickigen Tonfall anscheinend einfach an sich abperlen.

Julia beschloss, diesem Kollegen in den nächsten Tagen weiträumig aus dem Weg zu gehen.

••

Meine Güte, was für eine Zicke, dachte George O’Connor, als er wieder zu seinem Sitzplatz zurückgekehrt war. Okay, seine Bemerkung mit dem Winter in Deutschland war auch nicht besonders nett gewesen. Genauso wenig wie sein Seitenhieb auf Harry Gantman, als sie zusammen an der Bar gestanden hatten. Wobei – Gantman war wirklich ein unglaublicher Angeber und eine furchtbare Nervensäge noch dazu. Er kannte ihn schon von früher. Wahrscheinlich erinnert der sich nicht einmal mehr an mich, dachte George verbittert. Bei Filmaufnahmen in Spanien hatte eine Zeitschrift ihn mit einer Fotoreportage beauftragt. Man wollte dem großen Harry Gantman bei der Arbeit über die Schulter schauen. Für Harry zusätzliche Werbung, für die Zeitschrift ein todsicheres Los auf höhere Auflagen. Die Reportage war tatsächlich ein Knaller geworden, hinter den Kulissen aber waren die Fetzen geflogen. Einer der Hauptgründe dafür war das divenhafte Gehabe des Moderators gewesen. Vor der Kamera mimte er den unerschrockenen Indiana Jones, aber sobald die Einstellung im Kasten war, beschwerte er sich lautstark über das Catering, die Hitze und die Unfähigkeit der Crew.

George hatte nach drei Tagen die Nase gestrichen voll gehabt und sich auf den Weg zurück nach Hamburg gemacht, wo er seinen Artikel geschrieben und die Fotos abgeliefert hatte. Danach hatte er keinen Auftrag mehr angenommen, der ihn auch nur in die Nähe von Harry Gantman gebracht hätte.

Doch die Zeiten waren härter geworden, das Printgeschäft ging den Bach runter, seine alten Auftraggeber konnten sich kaum noch Exklusiv-Reportagen leisten. Die Zukunft gehörte den Onlineportalen, am liebsten mit multimedialem Content. Der Antarktis-Auftrag sollte sein Einstieg in diesen neuen Bereich werden. Weil er einen Großteil seiner Jugend in Deutschland verbracht hatte, konnte er sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch Texte liefern. Er würde vor Ort fotografieren, schreiben und kurze Videos aufzeichnen. Bedingung war, dass er jeden Tag etwas Neues berichtete. Er mochte seine Arbeit, nur dieser künstliche Zeitdruck störte ihn. Ungeachtet der langen Anreise sollten seine ersten Texte so schnell wie möglich im Portal erscheinen. Da blieb kaum Zeit, um das Thema zu hinterfragen, die Backgrounds kennenzulernen. Gott sei Dank konnte ich in den letzten Stunden ein wenig vorarbeiten, dachte George zufrieden, das verschafft mir einen kleinen Vorsprung.

Was ihn am meisten ärgerte, war, dass er immer noch nicht wusste, warum man ihn und die anderen Pressevertreter in die Antarktis eingeladen hatte. Die Premiere der Forschungsstation, hieß es offiziell, doch Terra Nova II war bereits seit einem Dreivierteljahr aktiv.

Die Ungewissheit nagte an ihm. Er hasste es, wenn die Fakten nicht auf dem Tisch lagen, er nicht wusste, worum es bei einem Auftrag ging. Und dazu jetzt noch Harry Gantman. Gut, dass er mit dem TV-Star nichts zu tun haben musste. Es passte zu Gantmans aufgeblähtem Ego, dass er ihn beim Check-in angesehen und nicht wiedererkannt hatte.

Wie hielt diese Julia es nur mit Gantman aus? Sie wirkte eigentlich nicht so wie eines dieser Mäuschen, die ihren Boss anhimmelten – im Gegenteil. Er hatte heimlich dem Gespräch zwischen den beiden gelauscht. Sie hatte ziemlich tough ihrem Boss die Fakten präsentiert. Und in der Arktis geforscht hatte sie auch noch. Interessant, sie hatte also nicht nur Skripte für ein paar TV-Einspieler geschrieben.

George grinste in sich hinein. Sei ehrlich, Alter, sie ist auch hübsch. Immerhin war sie ihm schon an der Hotelbar direkt aufgefallen. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich sogar noch an ihren Duft erinnern: etwas mit Zitrus, ganz frisch und leicht. Julia Kern hatte eine schlanke, sportliche, in seinen Augen ziemlich aufregende Figur. Er mochte ihr Profil. Die etwas zu große Nase, die ihrem Gesicht, zusammen mit den blonden lockigen Haaren, etwas Interessantes, Einzigartiges verlieh. Julia Kern war sicher keine klassische Schönheit, aber er würde sie gern mal in Ruhe fotografieren. Viele Modezeitschriften würden ihm die Fotos aus der Hand reißen, da ging er jede Wette ein. Was Julia in seinen Augen noch attraktiver machte, war, dass sie sich ihrer Ausstrahlung offenbar gar nicht bewusst war. Nicht wie diese Modepüppchen, die sich ständig präsentierten und mit weniger als zwei Stunden Vorbereitung und ohne Make-up nicht mal dem Pizzaboten die Haustür öffneten. Ja, er konnte sich gut vorstellen, dass Julia in der Arktis gearbeitet hatte, und zwar ohne zu murren.

Leider gab es da ein Problem. Er hatte sie bereits zweimal vor den Kopf gestoßen. Das kam bei diesem Typ Frau überhaupt nicht gut an. Wahrscheinlich werde ich mich bei ihr entschuldigen müssen, dachte er. Das, oder ich werde es möglicherweise für immer bereuen. Es war nur so ein Bauchgefühl, aber George hatte sich angewöhnt, auf sein Bauchgefühl zu achten.

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