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Linienflug Frankfurt-Sydney, irgendwo über dem Indischen Ozean

In den zurückliegenden Tagen war Julia eines klar geworden. Harry Gantman brauchte so dringend eine Redakteurin an seiner Seite wie ein Junkie den nächsten Schuss. Ihr Boss hatte gleich zu Anfang erklärt, dass er lieber mit Redakteurinnen zusammenarbeitete. Zum Glück ist mir seine Begründung dazu erspart geblieben, dachte Julia.

Fakt war: Der große Harry Gantman war nicht willens oder auch nicht fähig, mehr als zwei, drei Sätze am Stück frei vor laufender Kamera zu sprechen. Immer gab es einen kleinen Teleprompter mit dem vorformulierten Text.

Julia hatte vor ihrer engen Zusammenarbeit mit Harry angenommen, der Mini-Bildschirm diene nur der Sicherheit – schließlich hat jeder mal einen Hänger –, aber da hatte sie sich gewaltig getäuscht.

»Darf ich Sie auf unser Bordprogramm hinweisen? Wenn Sie möchten, nutzen Sie ruhig die Kopfhörer in der Sitztasche vor Ihnen.« Die Bemerkung der Stewardess ließ Julia aufblicken. Trotz der vielen Stunden, die der Flug nach Australien bereits dauerte, gelang der Stewardess immer noch ein professionelles Lächeln.

»Herzlichen Dank, die werde ich sicher noch nehmen.«

Julia blätterte im Bordmagazin und versuchte nicht daran zu denken, was sie am Ende dieser Reise erwartete. So schlimm kann es gar nicht werden. Der Blitz schlägt niemals zweimal an der gleichen Stelle ein. Du bist eine professionelle Redakteurin, und du ziehst das durch. Diese drei Sätze waren in den letzten Tagen zu ihrem persönlichen Mantra geworden.

»Ich sitze fest. Drei Tage und Nächte harre ich aus. Mit einer Handvoll Männer bin ich da oben in mehr als sechstausendfünfhundert Metern Höhe. Um unser Lager tobt ein höllischer Schneesturm, der Wind reißt an den Zeltwänden. Man versteht kaum sein eigenes Wort bei dem Lärm. Ich denke, jeden Moment muss der Stoff in Fetzen davonfliegen, und dann ist es aus und vorbei. Schlafen? Ha, ich sag Ihnen, an Schlaf war da kaum zu denken.«

Julia legte das Bordmagazin zur Seite. Ja, schlafen würde sie auch gern. Aber Harry sorgte dafür, dass sie hellwach war. Schade, dass Harry mein Boss ist, dachte Julia. Bei jedem anderen wäre sie längst aufgestanden und hätte um ein wenig Ruhe gebeten. Die BBC-Redakteurin, die neben Harry saß und ihm praktisch an den Lippen hing, hatte offensichtlich mit der Lautstärke seines Monologs kein Problem.

»Meinst du, er hört auf zu quatschen, wenn ich ihm meine Wasserflasche über den Schädel ziehe?« Sue beugte sich über den Mittelsitz zu Julia herüber und verdrehte die Augen.

»Aber nein, das wird ihn zwar kurz ins Stocken bringen, aber die Story wird er zu Ende erzählen. Solange eine langbeinige Schwarzhaarige neben ihm sitzt und ihn so bewundert, hast du da keine Chance. Was findet die nur an ihm?«

»Na, was wohl? Medienrummel, Abenteuer an exotischen Plätzen, die ganzen Stars, such dir was aus. Egal, lange kann es nicht mehr dauern, wir sind ja schon beim Schneesturm«, seufzte Sue. »Gleich ist es wieder so weit.« Sues Stimme wurde tiefer und bekam eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Harrys Tonlage. »Sie wollen alle aufgeben, aber nicht mit mir.«

»Nach drei Tagen Sturm wollen sie alle aufgeben, meine Liebe, aber ich sage dem Expeditionsleiter, nicht mit mir«, tönte es von weiter vorne.

Julia hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut rauszuplatzen. Sue dagegen lehnte sich in ihrem Flugzeugsitz zurück und murmelte: »Bingo, wusste ich’s doch. Gott, die Kleine könnte auch mit ihm nach hinten gehen und ihm einen blasen, dann hätte er endlich sein Ziel erreicht, und wir hätten Ruhe.«

»He, bist du mies drauf, wenn du mal nicht schlafen kannst, so kenn ich dich ja gar nicht.« Sue zuckte nur mit den Schultern.

»Also gut, das war gemein, aber findet eine so hübsche Frau keinen besseren Mann zum Anhimmeln? Wer weiß, welche Heldentat Harry als Nächstes ausgräbt.«

Sue setzte sich ihre Kopfhörer auf und zog eine Schlafbrille über die Augen. »Vielleicht klappt es ja so«, brummelte sie.

Julia streckte die Beine aus und suchte eine einigermaßen bequeme Stellung in dem Flugzeugsitz. Bis zur Landung in Hobart, der Hauptstadt der australischen Insel Tasmanien, konnte es noch eine Weile dauern. Julia fischte aus der Sitztasche die billigen Einwegkopfhörer heraus. Warum eigentlich nicht? Sie stöpselte den Stecker in die Buchse in der Armlehne ein. Eine Jazz-Combo spielte leise Late-Night-Jazz. Fast wie in Bernies Bar. Nicht unbedingt ihr Geschmack, aber okay. Belanglose Fahrstuhlmusik in mehr als dreißigtausend Fuß Höhe. Die Musik übertönte Harrys Erzählung und das Brummen der Triebwerke.

Ihr Bild vom großen Harry Gantman hatte in den letzten Tagen heftige Risse bekommen. Julia blinzelte zu den Nachbarsitzen hinüber. Harry vorne, Sue in ihrer Sitzreihe am Fensterplatz und der Kameramann Roy Decker eine Reihe weiter.

Harry hatte sich vorgenommen, mit einem ziemlich kleinen und überschaubaren Team die Antarktis zu erobern.

Roy, das hatte Julia rasch begriffen, war ein erfahrener Kameramann, der mit seinen vierzig Jahren schon in allen Ecken der Welt gedreht hatte. Was Julia an ihm besonders schätzte, war die unerschütterliche Ruhe, die er ausstrahlte. Ihm schien es überhaupt nichts auszumachen, dass Harry praktisch im Minutentakt eine neue Idee aus dem Hut zog. Wie Michael bereits gesagt hatte, arbeitete Roy schon seit ein paar Jahren mit Harry zusammen und hatte dabei offenbar die Fähigkeit erworben, in dessen Anweisungen die Spreu vom Weizen zu trennen. Bei dieser Reise war Roy Kameramann und Tontechniker in einer Person, aber er beschwerte sich nicht.

Sue hatte bei den ganzen Vorbereitungen die Zügel fest in der Hand behalten. Julia glaubte nicht, dass ihre Freundin viel Zeit zum Entspannen gefunden hatte. Ihr Abend in Bernies Bar war jedenfalls das letzte gemeinsame Treffen der beiden Frauen außerhalb des Gantman-Towers gewesen. Wahrscheinlich ist sie deshalb gerade so sauer geworden, dachte Julia. Ein kurzes Schnarchen ließ sie zur Seite schauen. Sues Kopf lehnte an der Bordwand. Sie schlief mit offenem Mund.

Der Flug ging von Frankfurt nach Sydney. Rund einundzwanzig Stunden Reisedauer. Dreieinhalb Stunden hatten sie am Flughafen in Dubai verbracht. Und von Sydney flogen sie weiter nach Hobart. Julia hatte längst aufgegeben, darüber nachzudenken, welcher Tag war. Für sie zählte jetzt nur noch die Ankunft in Hobart. Hier würde es einen Zwischenstopp von fast einem Tag geben, denn es sollten weitere Teilnehmer zu der Reisegruppe stoßen. Von Tasmanien aus führte dann die letzte Etappe mit einer Spezialmaschine direkt in die Antarktis.

Julia war tief dankbar dafür, dass diese Etappe nur noch aus einem siebenstündigen Flug bestand. Sieben Stunden in einem VIP-Flieger, wohlbemerkt. Schade eigentlich, dass man in Australien noch Journalisten aufnehmen wollte. Ansonsten hätte die Gruppe über Kapstadt anreisen können. Julia wollte sich nicht beklagen. Noch vor wenigen Jahren hatte jeder, der von Tasmanien in die Antarktis reiste, mehrere Tage auf einem Frachtschiff verbringen müssen.

Nein, das Vergnügen, den kältesten und menschenfeindlichsten Fleck der Erde zu besuchen, war einem damals wirklich nicht leicht gemacht worden. Die Journalistengruppe bekam jetzt dagegen den Prominentenzugang zum Eiskontinent. Die Australier hatten vor wenigen Jahren im Eis eine Landebahn angelegt. Jetzt konnte sogar ein Airbus A319 dort landen. Julia hatte davon gelesen und war gespannt darauf, das Ganze mit eigenen Augen zu sehen. Aber erst mal mussten sie in Tasmanien ankommen.

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