Читать книгу Tiefenzone - Andreas J. Schulte - Страница 18
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ОглавлениеVIP-Flug Antarktis, irgendwo über dem Indischen Ozean
Julia kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, wann es besser war, sie einfach in Ruhe zu lassen. Beinah erleichtert stellte sie fest, dass Sue auf dieser letzten Etappe der Reise nicht in der gleichen Sitzreihe wie sie einen Platz bekommen hatte. Von ihrem Sitz aus beobachtete sie, wie Sue in ihr kleines Diktiergerät sprach, das sie ständig dabeihatte. Das Ganze sah aus, als würde sie in einen Kugelschreiber sprechen, was er eigentlich auch war: ein Kugelschreiber mit Mikrofon, Mini-Objektiv und genug Speicherplatz, um eine Stunde Video aufzuzeichnen. Dieses kleine Hightech-Teil war ein Geburtstagsgeschenk von Sues Vater gewesen, der damit offenbar den Geschmack seiner Tochter genau getroffen hatte. Der Kugelschreiber hätte in jeden Bond-Film gepasst. Der obere Teil ließ sich abziehen, darunter kam ein USB-Stick zum Vorschein, sodass man die Daten leicht auf einen Computer übertragen konnte. Julia erinnerte sich, dass Sue in den ersten Wochen einen Heidenspaß dabei gehabt hatte, Kollegen in den unmöglichsten Situationen heimlich zu filmen. Nasebohren in der Kaffeeküche, Computerspiele, wenn man eigentlich an einer Story arbeiten sollte – alberne Kleinigkeiten, über die man sich in der Mittagspause gemeinsam amüsieren konnte.
In den letzten Monaten hatte Sue ihren Kuli ständig im Einsatz gehabt. Sie diktierte sich selbst To-do-Listen, hielt Einfälle fest oder fotografierte schnell ein paar Details ab, die sie dann für ihre Regiearbeiten einsetzte.
Sue steckte den Kugelschreiber-Rekorder wieder in ihre Aktentasche zurück, zog aus der Tasche ihres Vordersitzes eine eingepackte Schlafmaske heraus, rückte sich ein Kopfkissen zurecht und lehnte sich an die Kabinenwand. Wer so tat, als wolle er schlafen, musste auch keine lästigen Gespräche führen. Eine Minute später bereute Julia, dass sie es ihrer Freundin nicht nachgetan hatte.
»Ist hier neben Ihnen noch frei?«
Julia schaute hoch. Im Gang stand eine Frau, die mit schwarz gefärbten Haaren und perfektem Make-up auf dem hageren Gesicht verschleiern wollte, dass sie ein paarmal zu oft ihren achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Es war die Radiokollegin, und sie wartete auch gar nicht Julias Zustimmung ab, sondern setzte sich unaufgefordert auf den freien Platz am Gang.
»Ich habe gerade erfahren, dass Sie auch aus Köln sind. Auf der Teilnehmerliste stand ja nur Ihr Name. Wie kommt man denn nur dazu, für einen Amerikaner zu arbeiten? Gott, das stelle ich mir anstrengend vor. Die haben doch sicher einen ganz anderen Ansatz von Journalismus als wir. Sie müssen mir unbedingt alles erzählen.«
Das hätte Julia womöglich sogar getan, aber dazu kam es nicht.
Die nächste halbe Stunde gehörte exklusiv ihrer Nachbarin. Ulrike Buschlau-Werrig. Allein schon, wie sie ihren Namen betonte – als müsste man bei dessen Klang vor Ehrfurcht im Sitz erstarren. Tat Julia aber nicht, sie hatte keine Ahnung, warum Frau Buschlau-Werrig davon überzeugt war, die Krone des deutschen Radiojournalismus zu sein.
Eine gefühlte Ewigkeit später wusste sie es. Ein Grimme-Preis, eine eigene Radioshow am Wochenende mit bekannten Talkgästen und ein völlig übersteigertes Selbstbewusstsein. Dazu dreißig Jahre Berufserfahrung, und schon war das Drei-Sterne-Menü »Ich bin so was von wichtig« fertig.
Es sprach Bände, dass Julia in den dreißig Minuten außer ein paar »Mhms« und »ach was« nichts sagen musste. Mehr wurde vom staunenden Publikum nicht erwartet.
»Gott, ich rede und rede, aber es tut so gut, mal wieder Deutsch zu sprechen. Wissen Sie, ich war ja jetzt drei Wochen in Australien. Ein wenig Urlaub, vor allem aber Recherche für ein großes Projekt, darüber darf ich aber wirklich nicht mehr verraten. Da muss ich schweigen wie ein Grab.«
Julia hätte sonst was dafür gegeben, wenn das ernst gemeint gewesen wäre.
»Grundsätzlich, meine Liebe, habe ich nichts dagegen, in Englisch oder Französisch zu arbeiten. Oh nein, das ist ja das Mindeste, was man auf internationaler Ebene verlangen kann. Bei meinen Talkgästen kann ich mir einen Dolmetscher nicht leisten, da gehen die ganzen Zwischentöne verloren, die Feinheiten. Aber die Muttersprache ist einem eben doch am nächsten, nicht wahr, Julia?«
»Sicher, Frau Buschlau-Werrig –«
»Uli, ich bin die Uli, unter Kollegen, und wo wir doch gemeinsam in diese Eishölle reisen. Also, ich persönlich bin bereits zweimal in Schweden gewesen. Im Winter! Da lag meterhoch der Schnee vor dem Hotel. Der Rückflug verzögerte sich um mehr als zwei Tage. Solche Extremsituationen muss man gemeistert haben, um zu wissen, wo die eigenen Grenzen liegen. Als die Redaktion mich mitten im australischen Outback angerufen hat, um mich auf diese Reise zu schicken, habe ich deshalb auch gleich gesagt: Antarktis, da bin ich dabei. Und du?«
»Äh ja, ich bin auch dabei, sonst säße ich nicht in diesem Flieger.«
Uli kicherte. »Ich meine, warst du auch schon mal in Schweden?«
»Äh, nein …«
»Oh-oh. Na, dann solltest du dich auf was gefasst machen.«
»Wird schon nicht schlimmer werden als die Arktis«, sagte Julia lässig und sah, wie ihrer Sitznachbarin die Gesichtszüge entgleisten, »die langen Monate in der Forschungsstation. Da bekommt man doch einen gewissen Eindruck. Ist natürlich nicht mit einem eingeschneiten Hotel in Schweden zu vergleichen. Und was die Sprache betrifft, bin ich ganz froh, in den nächsten Tagen auch mal in der Sprache meiner Mutter arbeiten zu können. Die ist nämlich Amerikanerin und war lange Zeit Journalistin bei NBC. Ganz anderer Ansatz von Journalismus, keine Frage.«
Uli verzog das Gesicht, als hätte Julia gerade zugegeben, aus Spaß Robbenbabys zu erschlagen. Aber sie war tough genug, sich schnell wieder zu fangen.
»Arktis?« Erneutes Lachen, diesmal deutlich angespannter. »Da bist du ja schon eine Art Profi, obwohl du dir gerade deine ersten journalistischen Sporen verdienst.«
Jemanden loben und ihm gleichzeitig eins reinwürgen – Respekt. Einen Vorteil allerdings hatte Julias bissiger Kommentar, Uli verlor schlagartig das Interesse an einer weiteren Unterhaltung. Mit einem gemurmelten »Gott, der Jetlag schafft mich doch immer wieder. Nichts für ungut, meine Liebe« stand sie auf und ging zu ihrem ursprünglichen Platz zurück. Ende der Uli-Buschlau-Werrig-Show.
Es waren nur noch wenige Stunden bis zum Ziel der Reise, aber diese letzte Etappe kam Julia besonders lang vor. Schon merkwürdig: Da flog man fast anderthalb Tage um die Welt, aber der letzte Flug von wenigen Stunden dehnte sich endlos. Außerdem hatte sie das Taschenbuch, das sie sich eingepackt hatte, längst ausgelesen. Weiterer Lesestoff schlummerte im Gepäckraum, Julia ärgerte sich, dass sie nicht ein zweites Buch im Handgepäck mitgenommen hatte.
Sie stand auf, streckte den Rücken und holte ihren Tagesrucksack oben aus der Ablage. Ihr Blick schweifte umher. Viele der Pressekollegen, zumindest die, die sie sehen konnte, hatten tatsächlich die Augen geschlossen und dösten vor sich hin. Aus Sues Richtung kam ein leises Schnarchen, sie musste wirklich ein enormes Schlafdefizit angesammelt haben. Von O’Connor sah Julia nur den Hinterkopf. Das leise Klacken einer Tastatur aber verriet ihr, dass er an seinem Laptop arbeitete. Das Flugzeug, mit dem die Gruppe in die Antarktis flog, war eine VIP-Ausführung der australischen Regierung. Wobei man VIP-Ausführung nicht falsch verstehen durfte. Hier hatte niemand First-Class-Sitze eingebaut. Platz war bei einer Luftbrücke in die Antarktis ein kostbares Gut, das wurde nicht zugunsten von Bequemlichkeit verschwendet.
Die Maschine bot Platz für vierzig Passagiere, weil der Großteil der Kabine und natürlich der Frachtraum dem Transport von Material dienten. Vermutlich war jeder einzelne Flug heiß begehrt, und die Ladung wurde in den verschiedenen Forschungsstationen sehnsüchtig erwartet.
Neugierig zog Julia aus ihrem Tagesrucksack die Unterlagen, die Anne Bergström bei dem Briefing-Termin verteilt hatte. Ihre Aufgabe war es, für Harry nicht nur ein paar launige Pointen zu schreiben, sondern auch Inhalte zu liefern. Besser, sie begann damit, sich zu informieren.
Allerdings hatte sie noch keine Viertelstunde in dem umfangreichen Material gelesen, als schon der nächste Störenfried an ihrer Sitzreihe auftauchte. Diesmal war es ihr Chef persönlich, der sich auf den leeren Platz am Gang fallen ließ.
»Wissen Sie, wann wir endlich ankommen, Julia?«
Julia schaute kurz auf ihre Uhr. »Ich denke, in gut zwei Stunden werden wir die Casey-Forschungsstation erreichen.«
Harry rollte mit den Schultern und stöhnte leise. »Himmel, ich bin diese Flugsitze so was von leid.«
»Ach, kommen Sie, Boss. Ein Harry Gantman, der in den sieben Weltmeeren getaucht ist, den Mount Everest bezwungen und die Dschungel durchstreift hat, wird sich doch nicht von ein paar Flugstunden kleinkriegen lassen.«
»Julia, ich bin zwar alles andere als bescheiden, aber ich merke sehr wohl, wenn mich jemand auf den Arm nehmen will. Und das lasse ich Ihnen auch nur deshalb durchgehen, weil ich von Ihrer bisherigen Arbeit wirklich angetan bin. Und natürlich haben Sie mit allem recht. Ein Harry Gantman lässt sich nicht von zweitägigen Flügen unterkriegen.« Harry zwinkerte ihr zu. »Aufgeben ist keine Option.«
Sieh mal an: Harry ist nervig, hat seine Macken, aber er kann auch über sich selber lachen. Eine Eigenschaft, die Julia bei ihm nicht vermutet hätte.
»Nun hören Sie schon auf, mich anzustaunen, und verraten Sie mir was Neues über das Ziel unserer Reise.«
Julia fühlte sich ertappt und blätterte rasch in den Presseunterlagen. »Ja, also … ähm. Wir werden nicht direkt bei der australischen Forschungsstation landen. Die Landebahn wurde im Inland, auf dem Plateau des Upper-Peterson-Gletschers, rund siebzig Kilometer entfernt von der Station gebaut.«
»Himmel, soll das heißen, wir sind immer noch nicht am Ziel, wenn wir dort aus dem Flugzeug steigen?«
Hätte er das Briefing mitgemacht, wäre ihm diese Enttäuschung erspart geblieben, dachte Julia und verkniff sich ein Grinsen.
»Ja, ganz genau. Australien stellt den Flug und seine Landebahn zur Verfügung, wir bekommen die Casey-Forschungsstation auch gar nicht zu Gesicht, sondern werden mit Hubschraubern zu Terra Nova II gebracht. Das heißt, natürlich nur, wenn das Wetter vor Ort mitspielt. Was wir aber vielleicht erwähnen könnten, zum Beispiel zu Beginn der Sendung, ist, dass der Bau der vier Kilometer langen Landebahn – der sogenannte White Ice Runway – fast fünfunddreißig Millionen Dollar gekostet hat.«
Harry wiederholte stumm die Zahl fünfunddreißig Millionen. »Sie wollen mich schon wieder auf den Arm nehmen, Julia. Niemand zahlt so viel Geld für eine Schneepiste.«
»Das oder wochenlange Fahrten mit einem Frachtschiff, Harry. Unterm Strich sind die Flüge billiger, hier in der Pressemappe gibt es sogar einen Vergleich der einzelnen Anreisevarianten.« Sie tippte auf die Unterlagen.
»Geschenkt, das sind Details, die wir nicht brauchen«, winkte Harry ab. »Bleiben wir bei dieser sündhaft teuren Schneebahn.«
»Okay, Harry. Also, die Piste auf dem Gletscher muss ständig neu präpariert werden. Nach jeder Landung sind bis zu zehn Tage nötig, um die Bahn für das nächste Flugzeug vorzubereiten.«
Harry schüttelte ungläubig den Kopf. »Das übertrifft alles, was ich mir von dieser Reise erhofft hatte.«
»Wieso, das ist doch nur die Landebahn …«
»Eben, Julia, eben. Wenn die Australier mit der Landebahn einen solchen Aufwand betreiben müssen, überlegen sie es sich bestimmt zweimal, ob sie einem Dutzend Journalisten ihren kostbaren Flug zur Verfügung stellen. Und wenn schon so viel Logistik nur in einer Schneepiste steckt, frage ich mich, was uns erst in Terra Nova II erwartet.«
Harry stemmte sich aus seinem Sitz hoch. »Die Zahlen von eben sollten wir auf jeden Fall einbauen. Große Summen unterstreichen die Bedeutung, auch wenn es sich nur um platt gewalzten Schnee für fünfunddreißig Millionen handelt.«
»Ist gut, Harry, ich schreib das gleich auf.«
»Ach, und Julia«, Harry beugte sich zu ihr herüber, »versuchen Sie herauszukriegen, worum es hier geht. Ich habe einen Riecher für solche Sachen. Wer uns Pressefritzen Gold in den Hintern bläst, will nicht nur ein paar nette Storys über eine neu eröffnete Forschungsstation. Da steckt mehr dahinter, viel mehr. Ich will, dass Sie die Story für die Harry-Gantman-Show finden, alles klar?«
»Sicher, Harry.«
Da saß sie nun. Harry hatte ihr ein paar Punkte zum Grübeln gegeben. In dem Hochglanz-Pressematerial würde sie die Antwort allerdings nicht finden, davon war sie jetzt schon überzeugt. Finden Sie die Story: Worum geht es bei dieser Reise? Ja, das war die Tausend-Euro-Frage. Die Antwort erhielt sie vielleicht mitten in dieser Eiswüste. Bei dem Gedanken daran zog sich ihr der Magen zusammen. Wollte sie die Antwort wirklich wissen?