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Nordpolarmeer 85°40´43˝ Nord und 135°39´36˝ Ost,

rund 259 Seemeilen vom Nordpol

Kapitän Alexej Somokow faltete die Seekarte auf dem kleinen Tisch auf der Brücke zusammen. Zehn Minuten lang hatte er den Kurs der »Lenin« abgesteckt und im Kopf die aktuelle Position berechnet. Das war mittlerweile eine nutzlose Fähigkeit. Sowohl der GPS-Empfänger als auch das GLONASS-Navigationssystem lieferten die aktuellen Daten in Sekunden. Doch Somokow ließ es sich nicht nehmen, selbst nachzurechnen – eben weil er es konnte. Für viele waren die Seekarten nutzloses Zeug, sentimentaler Quatsch. Somokow aber liebte die Arbeit am Kartentisch. Also prüfte er die Route, auch weil ihm langweilig war. Die Pornos, die auf dem Schiffsserver zur Verfügung standen, reizten ihn schon lange nicht mehr.

Im vergangenen Spätsommer hatte die »Venta Maersk« als erstes Containerschiff und drittes großes Frachtschiff überhaupt die Nordostpassage durch das Nordpolarmeer ohne Eisbrecher gemeistert. Sollte ihn das freuen? Zum Teufel, nein! Das war in seinen Augen der Anfang vom Ende.

Die Nordostpassage weckte Begehrlichkeiten. Europa–Asien in kürzester Zeit. Die Strecke Rotterdam–Tokio betrug dann nur noch knapp siebentausendfünfhundert Seemeilen. Wer durch den Suezkanal fuhr, musste für die gleiche Strecke mit mehr als elftausenddreihundert Seemeilen rechnen. Bislang hatte aber das Eis der Arktis dafür gesorgt, dass diese »Abkürzung« wirtschaftlich unattraktiv war. Er fuhr jetzt seit fünfunddreißig Jahren zur See, hatte in der Kriegsmarine gedient, war seit vier Jahren Kommandant der »Lenin«. Für ihn war dieser Schiffsweg etwas Besonderes, hier hatten Containerschiffe ohne Eisbrecher nichts zu suchen. Mit den antriebsstarken Maschinen und der dicken Panzerung am Bug konnte sein Schiff bis zu fünf Meter starke Eisplatten zerstören. Was sich seiner »Lenin« in den Weg stellte, wurde durchschnitten wie Butter von einem heißen Messer.

Verdammt, wenn das so weiterging, waren er und sein Schiff bald Relikte. Ein Containerschiff ohne Eisbrecher auf der Nordostpassage – Drecks-Klimaerwärmung.

Somokow kratzte sich nachdenklich den Vollbart, der mittlerweile mehr grau als braun war. Weiter vorne am Steuerpult saß Jegor. Somokow fuhr jetzt seit zwei Jahren mit ihm und vertraute seinem Steuermann blind. Auch Jegor langweilte sich, weil der Bordcomputer das Schiff auf dem eingegebenen Kurs hielt. Lustlos blätterte der junge Offizier in einer Autozeitschrift. Im letzten Jahr hatte Jegor geheiratet, er suchte gerade einen größeren Kombi, weil seine Frau schwanger war und der Kleinwagen des Paares für einen Großeinkauf samt Windeln und Kindersitz nicht geeignet. Das alles wusste Somokow, weil er einer der Trauzeugen gewesen war und Irina, Jegors Frau, gut kannte.

Auf der Brücke brannten nur ein paar Lampen. Der Blick durch die Fenster bot wenig Aufregendes. In der dämmerigen Polarnacht sah das Wasser trüb-grau aus. Geringer Seegang, vereinzelte Eisschollen.

»Jegor, ich geh in meine Kabine und leg mich schlafen. Wenn etwas sein sollte, ruf mich an.«

»Sicher, Kapitän, aber was soll heute Nacht noch passieren?«

Insgeheim stimmte Somokow seinem Steuermann zu. Er befand sich schon fast an der Tür, als das schrille Klingeln des Bordtelefons ihn innehalten ließ.

Der Kapitän bedeutete seinem Offizier, sitzen zu bleiben.

»Somokow hier.«

»Kapitän, ich bin’s, Wladimir. Ich weiß nicht, was los ist, aber hier im Maschinenraum 3 riecht es irgendwie verschmort. So als würde Kunststoff schmelzen. Ich könnte zwei –«

Wladimirs Satz wurde von einem Knall unterbrochen. Somokow zuckte erschrocken zusammen. »Wladimir? Wladimir, was war das?«

Jegor war aufgesprungen. »Kapitän, wir haben einen Wassereinbruch in Sektor 3. Das muss in der Nähe des Maschinenraums sein.«

Alexej Somokow reagierte sofort. Er stürzte zum Kontrollpult, öffnete eine Abdeckung und löste den Feueralarm aus. »Die Funkzentrale soll einen Notruf absetzen. Ich will außerdem zehn Mann da unten in Sektor 3 haben. Was ist mit Wladimir? Sind die Sicherheitstüren geschlossen? Wie schlimm ist der Schaden?«

Der Steuermann nickte und beeilte sich, die einzelnen Befehle auszuführen. Somokow überlegte, ob er zu dem beschädigten Sektor laufen sollte, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. »Gott steh uns bei«, murmelte er und starrte aus dem Fenster. In diesem Moment erschütterte eine heftige Explosion das Schiff. Die Druckwelle ließ die Glasscheiben der Brücke zerbersten. Splitter flogen wie Geschosse durch den Raum. Somokow, der sich instinktiv geduckt und die Hände vor das Gesicht gehalten hatte, spürte, wie er aus mehreren Schnitten blutete. Jegor röchelte hinter ihm, eine große Glasscherbe steckte im Hals des Mannes. Somokow kam wankend auf die Beine. Nur um zu sehen, wie das Heck der »Lenin« in einem gleißenden Explosionsblitz verschwand.

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