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III. „Ex iniuria ius oritur?“ („Geht aus Unrecht Recht hervor?“)
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Eine neue Regel des Gewohnheitsrechts entsteht nicht im rechtlichen Vakuum. Wo Staaten sich selbst eines bisher erlaubten Verhaltens aus Rechtsgründen enthalten, gibt es keine Probleme; diese Selbstbindung ist als Ausdruck der Souveränität stets zulässig. Anders sieht es aber aus, wenn Staaten für sich Rechte reklamieren, die nach bisherigem Völkerrecht ausgeschlossen waren oder wenn ein Staat für ein bislang nicht verbotenes Verhalten von anderen Staaten erstmals zur Verantwortung gezogen wird. Selbst wenn sich die neue Praxis als Gewohnheitsrecht durchsetzen sollte: In beiden Fällen entsteht die neue Norm im Widerspruch zum bisherigen Völkerrecht. Da es einer Übung von einiger Dauer bedarf, um Gewohnheitsrecht zu schaffen, verstoßen die ersten Fälle der neuen Praxis gegen das zu ihrer Zeit geltende Völkerrecht und erhalten ihre Legitimation damit erst im Nachhinein.[67]
Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Entwicklung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (heute Art. 55 ff SRÜ): Ursprünglich begann hinter dem Küstenmeer die Hohe See, die allen Staaten zur Nutzung offenstand. Als erstmals Küstenstaaten für sich Ausschließliche Fischereizonen von bis zu 200 Seemeilen beanspruchten, verdrängte dies die anderen Staaten aus ihren bisherigen Nutzungsrechten. Ein Beispiel für den zweiten Fall sind die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, namentlich die Verfolgung wegen der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges. Zwar war die Ächtung des Angriffskrieges bereits 1928 durch den Briand-Kellogg-Pakt erfolgt; dass aber der Verstoß hiergegen nicht nur die Staatenverantwortlichkeit des Deutschen Reichs, sondern auch erstmals wirksam die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Spitzen von Regierung und Militär zur Folge hatte, war seinerzeit einer der Hauptkritikpunkte der Verteidigung.
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Es fehlt daher nicht an Versuchen, die Etablierung neuer Regeln des Völkerrechts zu erleichtern, indem man die Anforderungen an Dauer oder Häufigkeit der Anwendungsfälle reduziert. In dem soeben erwähnten Festlandsockel-Fall hat der IGH es z. B. für möglich gehalten, dass eine weit verbreitete Praxis auch innerhalb relativ kurzer Zeit neues Recht schaffen kann; Dauer und Verbreitung bilden so „kommunizierende Röhren“ innerhalb des objektiven Elements. Befürwortet wird auch eine pragmatische „Verrechnung“ von Praxis und opinio iuris: Je deutlicher und verbreiteter eine Rechtsüberzeugung geäußert wird, desto weniger Praxis ist nötig, um die neue Norm gewohnheitsrechtlich zu etablieren.[68]
Für die Nürnberger Prozesse ist so z. B. auf die einstimmige Resolution 95 vom 11. Dezember 1946 verwiesen worden, in denen die UN-Generalversammlung die Nürnberger Grundsätze bekräftigte.
Erleichtert wird dieser Schluss von der Rechtsüberzeugung auf die Praxis, wenn man – entgegen der traditionellen Sicht – in der opinio iuris von vornherein das primäre Element des Gewohnheitsrechts erblickt.[69] Diese Fokussierung auf die Rechtsüberzeugung wird in der umstrittenen Figur des instant custom noch zugespitzt. Insbesondere für das Weltraumrecht wurde erwogen, ob dieses bereits mit den ersten UN-Resolutionen sogleich zu Gewohnheitsrecht geworden sei.[70] Die Vorstellung eines „sofortigen Gewohnheitsrecht“ bricht jedoch mit dem Grundcharakter dieser Rechtsquelle: Ganz gleich, welches Element man als das primäre ansieht, von „Gewohnheit“ kann man nur bei gewissen Verhaltensmustern sprechen, die durch einen Einzelfall noch nicht in Erscheinung getreten sein können. Nicht in den anerkannten Rechtsquellenkanon einzupassen sind schließlich auch Positionen, die das Gewohnheitsrecht als eine Art declaratory law[71] betrachten, bei dem auf Praxis ganz verzichtet werden könne. In der Folge sollen v. a. Resolutionen der UN-Generalversammlung oder von UN-Weltgipfeln ohne weiteres Gewohnheitsrecht etablieren können. Hier werden die Grenzen zwischen Recht und Nicht-Recht verwischt. Die Beispiele zeigen jedoch, dass und wie das Völkergewohnheitsrecht unter den Bedingungen eines rapiden technologischen Wandels oder einer tief gehenden moralischen Empörung einen beschleunigten Wandel erfahren kann.[72]
Die gelegentlich (z. B. im Zusammenhang mit der responsibility to protect [Rn. 314–315]) anzutreffende Formulierung, es handle sich bei einer Regel um eine „emerging norm“, bringt diese Spannungslage auch begrifflich zum Ausdruck: Eine „im Entstehen begriffene“ Norm ist (noch) nicht Bestandteil des Völkerrechts, wird aber – eine sich verfestigende Rechtsüberzeugung und eine entsprechende Be(s)tätigung in der Praxis vorausgesetzt – als Kandidat für den Status einer Rechtsnorm behandelt.[73]
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Der hier gebotene Überblick hat eine Reihe von Unschärfen des Gewohnheitsrechts angesprochen, in denen sich das Potential dieser Rechtsquelle für eine Fortentwicklung des Völkerrechts auch ohne oder gegen den Willen einzelner Staaten verbirgt.[74] Während im Bereich des Vertragsrechts eine Bindung ohne Einwilligung nicht stattfindet und Widerstände einzelner Staaten nur im Rahmen vertraglicher Ermächtigung überwunden werden können (z. B. durch Sekundärrecht Internationaler Organisationen oder durch satzungsgemäße Mehrheitsbeschlüsse), eröffnet das Gewohnheitsrecht gewisse Spielräume für das Überspielen einzelner Abweichler:[75] durch die Unklarheit über die genauen Inhalte und die Rechtswirkungen zwingenden Völkerrechts (dazu Rn. 288–294); über die Möglichkeit, den Geltungsbereich vertraglicher Normen durch einen Übergang ins Gewohnheitsrecht zu erweitern, dessen Voraussetzungen nicht präzise zu benennen sind; durch das Abstellen auf die Praxis und Rechtsüberzeugung lediglich einer überwiegenden Zahl der Staaten; durch offene Fragen rund um den persistent objector; durch Verrechnungen des objektiven und subjektiven Elements. Hinzu tritt, dass neu entstehende Staaten in das zum Zeitpunkt ihrer Entstehung existierende Völkergewohnheitsrecht hineintreten (Rn. 107). Da all diese Unschärfen den Streit über die Existenz bzw. den Inhalt einer Gewohnheitsrechtsnorm befeuern, kommt den autoritativen Rechtserkenntnisquellen des Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut, namentlich den internationalen Gerichten, hier eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Fortentwicklung des Völkerrechts zu.
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