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II. Insbesondere: Zwingendes Völkerrecht

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Als zwingendes Völkerrecht (ius cogens, peremptory norms of international law) gelten diejenigen Regeln, die, dem Willen der Staaten weitgehend entzogen, in materieller Hinsicht die unverbrüchlichen Verfassungsprinzipien der internationalen Gemeinschaft darstellen. Diese können ihren Sinn nur dann erfüllen, wenn und soweit sie allen Staaten von vertraglicher Bindung unabhängig obliegen. Sie sind daher Bestandteil des universellen Gewohnheitsrechts. Beide sind aber nicht deckungsgleich: Nur sehr wenige Normen des universellen Gewohnheitsrechts haben zwingenden Charakter.

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Als Inhalte des völkerrechtlichen ius cogens werden genannt: das Gewaltverbot, das Verbot des Völkermordes, Sklavereiverbot und Verbot der Apartheid sowie Kerngewährleistungen der Menschenrechte.[94] Deutlich wird an diesem Kanon der Verfassungsprinzipien ein Wandel des alten „Westfälischen Systems“: Nur das Gewaltverbot gehört dem zwischenstaatlichen Paradigma an – die übrigen Normen schützen den Menschen und verdeutlichen, dass das moderne Völkerrecht die scharfe Trennung von Innen und Außen, die noch bis zur Mitte des 20. Jahrhundert prägend war, nicht länger anerkennt.

Zum ius cogens wird man „elementare Erwägungen der Menschlichkeit“ (elementary considerations of humanity) rechnen können. Der IGH hat diese Formel 1949 im Korfu-Kanal-Urteil verwendet und 1986 im Nicaragua-Urteil mit Blick auf den humanitären Mindeststandard des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Rotkreuz-Konventionen von 1949 wieder aufgegriffen.[95] Auch hier geht es um eine letzte Grenze staatlichen Verhaltens, an der alle Rechtfertigungsversuche scheitern müssen.

Korfu-Kanal-Fall (IGH 1949)[96]

Am 22. Oktober 1946 liefen vier britische Kriegsschiffe in den zu albanischen Hoheitsgewässern gehörigen Korfu-Kanal ein. Zwei der Schiffe liefen dabei auf Seeminen, wodurch es zu erheblichen menschlichen wie materiellen Verlusten kam. Großbritannien verklagte daraufhin Albanien vor dem IGH auf Schadensersatz.

Der IGH gab der Klage statt mit der Begründung, Albanien habe eine völkerrechtliche Sorgfaltspflicht verletzt, als es die britischen Schiffe in seine Gewässer einfahren ließ, ohne sie vor den Seeminen zu warnen. Es stand dabei zur Überzeugung des IGH fest, dass Albanien von den Seeminen Kenntnis gehabt hatte und es auch zeitlich wie technisch möglich gewesen wäre, die einlaufenden Schiffe rechtzeitig zu warnen. Die aktive Handlungspflicht, Dritte vor Gefahren im eigenen Hoheitsgebiet zu warnen, folgt nach Ansicht des IGH aus allgemeinem Völker(gewohnheits)recht:

„Such obligations are based, not on the Hague Convention of 1907, No. VIII, which is applicable in time of war, but on certain general and well-recognized principles, namely: elementary considerations of humanity, even more exacting in peace than in war; the principle of the freedom of maritime communication; and every State's obligation not to allow knowingly its territory to be used for acts contrary to the rights of other States.“

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Den wichtigsten Referenzpunkt für das ius cogens bildet Art. 53 WVK. Dieser regelt zwar nur bestimmte Wirkungen des zwingenden Rechts, bestätigt aber die Existenz dieser Klasse von Rechtsnormen und definiert die zwingende Norm als

eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.

Danach sind Regeln des zwingenden Völkerrechts zwar nicht vollständig der Änderung entzogen; ihr besonderer Charakter ergibt sich aber daraus, dass sie nur im Einvernehmen aller Mitglieder der internationalen Gemeinschaft geändert werden dürfen. Außerdem muss ein neues Fundamentalprinzip an die Stelle des alten treten. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der „einheitliche Wille“ der „internationalen Gemeinschaft“ vereinzelt bleibende Widerstände nicht berücksichtigen muss, ist eine Änderung solcher zwingender Normen des Völkerrechts sehr unwahrscheinlich. Etwas anderes dürfte allein für die Erweiterung anerkannter Ausnahmen vom Gewaltverbot gelten (Rn. 1052, 1106). Im Unterschied zu anderen zwingenden Völkerrechtsnormen kennt das Gewaltverbot überhaupt Ausnahmen.

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Verstößt ein Vertrag gegen eine Norm des zwingenden Völkerrechts, ist er nichtig; Verträge, die gegen eine inzwischen entstandene Ius-cogens-Norm verstoßen, werden nichtig (vgl. Art. 53, 64 WVK). Zwingendes Völkerrecht widersteht auch dem (übrigen) Gewohnheitsrecht, indem es nur durch neues zwingendes Recht abgelöst werden kann. Das ius cogens etabliert also eine Normenhierarchie im Völkerrecht (im Sinne eines Geltungsvorrangs bestimmter, höherrangiger Normen, siehe Rn. 286).

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Normen des zwingenden Völkerrechts gelten erga omnes, d. h. ihre Einhaltung ist allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft gegenüber geschuldet. Die Figur der Erga-omnes-Pflicht ist nicht auf das ius cogens beschränkt; sie bezeichnet lediglich eine Erfüllungsstruktur von Rechtsnormen. Die meisten völkerrechtlichen Pflichten gelten nur inter partes, d. h. zwischen den Parteien eines Vertrages oder den Beteiligten eines völkerrechtlichen Delikts: Erlegt Staat A Waren aus Staat B unter Verstoß gegen ein bilaterales oder multilaterales Handelsabkommen Strafzölle auf, ist nur Staat B verletzt. Dasselbe gilt, wenn A durch Genehmigung eines grenznahen Kohlekraftwerks die Luft in B verpestet. Parteien eines Vertrags können aber festlegen, dass ein Normverstoß gegenüber einer Vertragspartei als Vertragsverletzung gegenüber der Gesamtheit der Vertragspartner gilt (hier spricht man von Pflichten erga omnes partes, also gegenüber allen Vertragsparteien).[97] Eine solche Regelung wird man nur für besonders wichtige Bestimmungen treffen, die gewissermaßen das Herzstück des Vertrages bilden. Aus demselben Grund haben auch Ius-cogens-Normen Erga-omnes-Wirkung: Sie markieren das Herzstück des universellen Völkerrechts. Ein Völkermord, wo auch immer begangen, betrifft die internationale Gemeinschaft als ganze. Greift ein Staat einen anderen militärisch an, ist der internationale ordre public gestört.

Barcelona Traction (IGH 1970)[98]

Im Barcelona-Traction-Fall ging es im Kern um die Frage, welcher Staat auf völkerrechtlicher Ebene diplomatischen Schutz für eine juristische Person ausüben darf, wenn Sitzstaat, Gründungsstaat und Heimatstaat der Anteilseigner auseinanderfallen. Für diese Frage ist das Urteil nach wie vor wichtig. Berühmt wurde es aber durch ein obiter dictum (d. h. eine für die Entscheidung des Falls irrelevante, beiläufige Bemerkung) des IGH, in der er die Existenz von Pflichten erga omnes anerkannte:

„In particular, an essential distinction should be drawn between the obligations of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-à-vis another State in the field of diplomatic protection. By their very nature the former are the concern of all States. In view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are obligations erga omnes.“

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An diese theoretischen Überlegungen schließt sich die praktische Frage an, wer die „internationale Gemeinschaft“ ist und vor allem – wer für sie handelt. Die internationale Gemeinschaft ist ein schwer greifbarer Adressat; man kommt nicht umhin, nach einem Treuhänder zu suchen. Angesichts ihrer universellen Repräsentanz sind die Vereinten Nationen der natürliche und weitgehend unumstrittene Kandidat. Schwieriger wird es, wenn sich einzelne Staaten oder regionale Bündnisse aus eigenem Antrieb als Treuhänder der internationalen Gemeinschaft begreifen und sich aufmachen, das zwingende Völkerrecht durchzusetzen. Hier besteht die Gefahr von Missbrauch.

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In ihren Artikeln zur Staatenverantwortlichkeit (2001)[99] ist die ILC bei der Frage von Reaktionen auf Ius-cogens-Verstöße vage geblieben (vgl. Art. 41):

1. Die Staaten arbeiten zusammen, um jeder schwerwiegenden Verletzung im Sinne des Artikels 40 mit rechtmäßigen Mitteln ein Ende zu setzen.

2. Kein Staat erkennt einen Zustand, der durch eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des Artikels 40 herbeigeführt wurde, als rechtmäßig an oder leistet Beihilfe oder Unterstützung zur Aufrechterhaltung dieses Zustands.

3. Dieser Artikel berührt nicht die anderen in diesem Teil genannten Folgen und alle weiteren Folgen, die eine Verletzung, auf die dieses Kapitel Anwendung findet, nach dem Völkerrecht nach sich ziehen kann.

Auf der Suche nach „den rechtmäßigen Mitteln“ zur Beendigung eines Verstoßes gegen zwingendes Völkerrecht muss man nach der Art der Reaktion differenzieren: Klagen vor dem IGH, der als Gerichtshof der Vereinten Nationen das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Völkerrechtsgemeinschaft darstellt, sollten von dem klagenden Staat in Prozessstandschaft auch auf Verletzungen erga omnes gestützt werden können, selbst wenn der IGH hier noch zurückhaltend ist.[100] Auch gewaltfreie Gegenmaßnahmen können jedenfalls von „regionalen Abmachungen“ im Sinne von Kapitel VIII UNCh gegen den Rechtsbrecher ergriffen werden (Rn. 1077). So haben z. B. die EU-Mitgliedstaaten 1999 wegen der ethnischen Säuberungen im Kosovo-Konflikt der staatlichen jugoslawischen Fluggesellschaft JAT die Landerechte in der EU entzogen oder wegen des Vorwurfs schwerster Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs in Libyen 2011 ihre Häfen für Schiffe gesperrt, die aus dem Teil Libyens stammten, der von Staatschef Gaddafi kontrolliert wurde. Gewaltsame Interventionen dagegen dürfen nach wie vor nur nach einer Autorisierung des UN-Sicherheitsrates als Reaktion auf den Verstoß gegen eine Norm des zwingenden Völkerrechts gestützt werden.[101]

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