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IV. Zwischen Induktion und Deduktion

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Zum Abschluss dieses Kapitels noch ein paar Worte zum Umgang mit den Rechtsquellen im Prozess der Rechtsfindung: In einer idealtypischen (d. h. im Interesse der analytischen Klarheit überzeichneten) Gegenüberstellung verfährt das Common Law induktiv, d. h. man schließt hier vom Einzelfall auf die allgemeine Regel: Der Richter schaut zunächst frühere Fälle durch, um den aktuellen Fall nach deren Muster zu entscheiden bzw. um aus den Einzelfällen eine allgemeine Regel zu folgern, die er auf seinen Fall anwenden kann. Demgegenüber baut die kontinentaleuropäische Tradition typischerweise auf ein deduktives Vorgehen: Von einer allgemeinen Regel ausgehend wird über verschiedene Stufen der Auslegung und Konkretisierung die Lösung des Einzelfalls vorbereitet.[108]

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Das Spannungsfeld von induktivem und deduktivem Ansatz findet sich auch im Völkerrecht.[109] Dabei kommt das induktive Vorgehen dem klassischen souveränitätsbetonten Völkerrecht entgegen: Ausgangspunkt sind die konkreten Einzelfälle, deren Fähigkeit, eine allgemeine Regel zu generieren, kritisch geprüft wird. Das Völkerrecht bewahrt auf diese Weise seinen konkreten und fragmentarischen Charakter (Rn. 41). Das deduktive Vorgehen dagegen begünstigt einen gemeinschafts- und verfassungsorientierten Ansatz: Allgemeine Prinzipien können dazu dienen, im Wege der Konkretisierung abgeleitete Rechtssätze hervorzubringen, die den Staaten neue Verhaltenspflichten auferlegen. Notwendig ist nicht, dass eine solche Pflicht in der Vergangenheit schon einmal anerkannt wurde und der Fall auf den vorliegenden übertragbar ist, sondern dass sie aus einem anerkannten allgemeinen Grundsatz ableitbar ist.

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Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile: Der induktive Ansatz ist im traditionellen Völkerrecht verwurzelt und kann auf größere Akzeptanz bei den Staaten rechnen, die ihre Souveränität nicht vorschnell und unkontrolliert eingeschränkt sehen wollen. Ein Nachteil ist eine Neigung zum Beharren und eine geringere Problemlösungsfähigkeit des Völkerrechts. Oft erscheint der Rückzug auf die Lotus-Regel unbefriedigend. Der deduktive Ansatz fördert die dynamische Fortentwicklung des Völkerrechts, läuft aber Gefahr, im konstitutionellen Überschwang Rechtsschöpfung zu betreiben, die die realen Bedingungen in den internationalen Beziehungen aus dem Blick verliert und damit Akzeptanz verspielt. Die angemessene Methode des Umgangs mit den Völkerrechtsquellen baut daher auf eine Mischung aus beiden Ansätzen.

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Bei Verträgen steht zunächst ein deduktiver Rechtsfindungsmodus im Vordergrund: Hier liegen allgemeine Vertragsnormen vor, die es – continental style – auf den Einzelfall anzuwenden gilt. Bei der Berücksichtigung der Vertragspraxis oder in Auslegungsfragen besteht aber Anlass, die durch Deduktion gewonnenen Erkenntnisse auf ihre Akzeptabilität hin zu prüfen, indem man frühere Fälle auf ihre Verwertbarkeit hin untersucht und gegebenenfalls heranzieht. Der Umgang mit Gewohnheitsrecht erfolgt dagegen traditionell induktiv – durch Suche nach Staatenpraxis. Will man das Gewohnheitsrecht nicht zu einem reinen deklarativen Recht denaturieren (Rn. 262), muss das stark induktive Moment erhalten bleiben. Notwendig ist aber auch die Einbeziehung von allgemeinen Rechtssätzen, deren gewohnheitsrechtliche Fundierung anerkannt ist und die der Rechtsfindung eine Richtung weisen können. Durch ein Hin- und Herwandern des Blickes kann so im Interesse einer angemessenen Problemlösung das Völkerrecht fortgeschrieben werden. Dieses Verfahren erinnert daran, wie Ronald Dworkin das anglo-amerikanische (Richter-)Recht charakterisiert hat:[110] als einen Kettenroman, an dem viele Autoren beteiligt sind, die zwar das Romangeschehen vorantreiben, dabei jedoch regelmäßig in den Bahnen bleiben, die in den früheren Kapiteln vorgezeichnet sind. Überraschende und kreative Wendungen haben aber natürlich auch ihren Platz.

Verdeutlichen kann man die unterschiedlichen Herangehensweisen am Beispiel des Streits um den belgischen Haftbefehl gegen den damaligen kongolesischen Außenminister Yerodia.[111] Belgien leitete die Legalität seines internationalen Haftbefehls zunächst aus großen Prinzipien ab: dem Verbot von Völkermord als ius cogens und dem Weltrechtsprinzip, das alle Staaten zur Strafverfolgung ermächtigt, als Ausdruck von Pflichten erga omnes. Gegenüber diesen Verfassungsprinzipien der internationalen Gemeinschaft könne das alte Prinzip der Immunität ausländischer Regierungsvertreter nicht mehr bestehen. Zur Beglaubigung dienten aus der internationalen Praxis u. a. die Nürnberger Prozesse, die Tätigkeit von ICTY und ICTR sowie das Pinochet-Urteil des House of Lords. Demgegenüber verfuhr der IGH in seinem Urteil weitgehend induktiv und stellte fest, dass die internationale Praxis die von Belgien behauptete Regel nicht erkennen lasse. Das Nürnberger Tribunal, das ICTY und das ICTR seien internationale Strafgerichte, und das Pinochet-Urteil hätte ein ehemaliges Staatsoberhaupt betroffen, keinen amtierenden Minister. Diese an den Einzelfällen gewonnenen Ergebnisse wurden vom Gericht zurückgekoppelt an die fortdauernde Bedeutung des Immunitätsgrundsatzes – und damit an ein übergeordnetes Prinzip.

Vertiefende Literatur zu F.:

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Zu III. und IV. U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht: Zu Rechtscharakter, Quellen, Systemzusammenhang, Methodenlehre und Funktionen des Völkerrechts, 1991; F. Francioni, Equity in International Law, MPEPIL (6/2013); M. Koskenniemi, Methodology of International Law, MPEPIL (11/2007); J. Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, 2018; ders. und M. Goldmann, Der „Turn to Principles“ im Völkerrecht: Theoretische und methodische Perspektiven auf die Zukunft von Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft, voelkerrechtsblog.org (Mai 26./28.5.2014); S. Vöneky, Analogy in International Law, MPEPIL (2/2008); W. T. Worster, The Inductive and Deductive Methods in Customary International Law Analysis: Traditional and Modern Approaches, GeorgeJIL 45 (2014), 445.

Ausbildungsfälle zu § 3:

W. Ader/R. Streinz, Sanktionen mit Hindernissen, Jura 1989, 312; T. Diehn/N. Petersen, Die königlichen Kronjuwelen, Jura 2004, 416; O. Dörr, M.-Phobie, JuS 1994, 500; G. Odendahl, Frankreichs Nuklearversuche im Südpazifik, JuS 1997, 633.

Kontrollfragen:

Welche Arten von Rechtsquellen sind im Völkerrecht anerkannt? Rn. 186–187
Was ist ein völkerrechtlicher Vertrag? Rn. 189–193
Welche Relevanz hat die Unterscheidung von Austauschverträgen (traités-contrats) und normsetzenden Verträge (traités-lois)? Rn. 195
Warum ist es völkerrechtlich unzutreffend, wenn formuliert wird, der Bundestag habe ein internationales Abkommen ratifiziert? Rn. 202
Welche Rechtswirkungen entfaltet ein Vertrag vor seinem Inkrafttreten? Wie kann sich ein Staat hiervon lösen? Rn. 206–207
Auf welche Weise bewirken Vorbehalte eine Bilateralisierung multilateraler Verträge? Rn. 219, 221
Welche Rechtsfolgen hat ein unzulässiger Vorbehalt im Völkervertragsrecht? Rn. 224–226
Wirkt sich ein Verstoß gegen das innerstaatliche Recht eines Vertragspartners auf die Rechtsgültigkeit völkerrechtlicher Verträge aus? Rn. 209, 239
Grenzen Sie die Kündigung bzw. Suspendierung eines Vertrags nach Art. 60 WVK von der Kündigung bzw. Suspendierung eines Vertrags als Gegenmaßnahme ab! Rn. 245
Was besagt die sog. clausula rebus sic stantibus? Rn. 247
Aus welchen Elementen bildet sich Gewohnheitsrecht? Rn. 251
Was ist ein persistent objector? Rn. 257–258
Vor welche Schwierigkeit stellt die Entstehung neuen Gewohnheitsrechts? Rn. 261–262
In welchem Verhältnis stehen Völkergewohnheitsrecht und vertragliches Völkerrecht zueinander? Rn. 259–260, 284–286
Wie kann es im Völkerrecht zu Rechtsbindungen von Staaten ohne oder sogar gegen ihren Willen kommen? Rn. 263
Was sind „allgemeine Rechtsgrundsätze“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut? Rn. 265
Unter welchen Voraussetzungen kommt es im Völkerrecht zu einer Rechtsbindung durch einseitige Erklärung? Rn. 271
Welche Rolle spielt das sog. soft law im Völkerrecht? Rn. 278–279
Was versteht man unter zwingendem Völkerrecht (ius cogens) und welche Rolle spielt es im heutigen Völkerrecht? Rn. 288–294
Was sind Pflichten erga omnes, und welche Rechtsfolgen hat ein Verstoß gegen eine solche Pflicht? Rn. 292–294
Worin liegt das Problem von Analogien im Völkerrecht? Rn. 295
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