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D. Allgemeine Rechtsgrundsätze
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Allgemeine Rechtsgrundsätze in einem weiteren Sinne sind Normen, die grundlegende Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit verkörpern und die in allen Rechtsordnungen anerkannt sind. Unterscheiden kann man hier:
– | Grundbedingungen jeder Rechtsordnung: Hierzu zählt z. B. der Grundsatz pacta sunt servanda („Verträge sind einzuhalten“). Ohne die Verbindlichkeit von Verträgen und – im übertragenen Sinn – ganz allgemein von Recht, kann keine Rechtsordnung existieren. Letztlich geht es hier um die Grundnorm(en) des Rechts. |
– | Grundsätze aus der spezifischen Natur des Völkerrechts, wie z. B. die souveräne Gleichheit der Staaten oder das Interventionsverbot. Hier handelt es sich um Grundsätze der internationalen Beziehungen, bei denen von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung ausgegangen werden kann. |
– | Grundsätze der Rechtslogik: Zu diesen zählen formale Grundsätze wie der Vorrang der speziellen Rechtsnorm vor der allgemeinen, der neueren vor der älteren, der höherrangigen vor der niederrangigen. Ihre Allgemeinheit folgt aus der Bezogenheit auf normtheoretische Aspekte. |
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In einem engeren Sinne werden als allgemeine Rechtsgrundsätze übereinstimmende Regeln staatlicher Rechtsordnungen bezeichnet. Im nach wie vor weitgehend fragmentarischen Völkerrecht (Rn. 41) erfüllen sie die Funktion, Lücken dort zu schließen, wo der Rückzug auf die staatliche Souveränität nicht angemessen erschiene. Voraussetzung für einen solchen Transpositionsakt vom nationalen Recht auf die Ebene des Völkerrechts ist, dass (1) die betreffende Regel „von den Kulturvölkern anerkannt“ ist und dass (2) sie sich sinnvoll auf die internationale Ebene übertragen lässt. Etabliert sich ein solcher allgemeiner Rechtsgrundsatz auf internationaler Ebene, so kann er in Gewohnheitsrecht übergehen.
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Die „Kulturvölker“, von denen Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut spricht, sind nach heute überwiegender Auffassung alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen; andere wollen etwa auf die Achtung der universell anerkannten Menschenrechte abstellen. Dennoch muss in der Praxis nicht nach der Anerkennung von Rechtsgrundsätzen in sämtlichen Staaten gefahndet werden. Es genügt vielmehr, wenn bei dem erforderlichen Rechtsvergleich repräsentative Rechtsordnungen aus den großen Rechtskreisen („Rechtsfamilien“) der Welt berücksichtigt werden (v. a. angloamerikanisch, kontinentaleuropäisch, südamerikanisch, ostasiatisch, afrikanisch, islamisch-arabisch; früher auch: sozialistisch). Das IGH-Statut erreicht dies organisatorisch durch eine Zusammensetzung des IGH, die gemäß Art. 9 Angehörige aller großen Rechtskreise erfassen muss. (Eine gewisse Dominanz des anglo-amerikanischen Rechtsdenkens dürfte allerdings nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken sein, dass die meisten IGH-Richter zumindest auch in den USA oder in Großbritannien ausgebildet wurden.)
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Bei der Frage, welche Grundsätze sich zu einer Transposition auf die internationale Ebene eignen, offenbart sich einmal mehr der im Kern genossenschaftliche Charakter des Völkerrechts: Neben Grundsätzen des Prozessrechts (z. B. Rechtskraft von Urteilen nach den Grundsätzen der res iudicata oder Grundsatz des rechtlichen Gehörs) sind es v. a. dem Privatrecht entstammende Grundsätze, die den Weg in das Völkerrecht geschafft haben. Zu diesen zählen u. a. folgende Grundsätze:
– | Auch im Völkerrecht hat sich der Rechtsverkehr an Treu und Glauben (good faith, bona fide) zu orientieren.[76] Dem Treue-Grundsatz verwandt ist das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium), das Elemente des Vertrauensschutzes in sich aufnimmt.[77] Vor allem in Prozessen wird widersprüchliches Verhalten durch das dem Common Law entstammende Prinzip des estoppel sanktioniert: Setzt sich eine Prozesspartei zu ihrem bisherigen Verhalten oder Vorbringen in Widerspruch, ist sie mit dem neuen Argument ausgeschlossen („estopped“).[78] Die Abgrenzung dieser sich teilweise überschneidenden Grundsätze ist nicht zuletzt wegen ihrer Herkunft aus unterschiedlichen Rechtskreisen nicht immer leicht möglich. |
– | Dass ein Staat für sein völkerrechtswidriges Verhalten einzustehen und Wiedergutmachung zu leisten hat, leitet sich ebenfalls aus den übereinstimmenden nationalen Rechtsordnungen ab, ist aber inzwischen auf internationaler Ebene auch gewohnheitsrechtlich anerkannt. |
– | Auch der Rechtsverlust durch Zeitablauf (Verjährung, Ersitzung) ist ein Grundsatz, der nationalen Rechtsordnungen entstammend in das Völkerrecht importiert wird. |
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Die Herleitung allgemeiner Grundsätze aus dem öffentlichen Recht scheitert im Unterschied zu privatrechtlichen Grundsätzen oft bereits daran, dass solche Prinzipien nicht in allen Staaten anerkannt sind. Dies liegt v. a. an den unterschiedlichen politischen Systemen. So sind z. B. demokratische Strukturen längst nicht in allen Staaten vorhanden. Auch die Menschenrechte, zu denen sich in der einen oder anderen Form alle Staaten der Erde auch in ihrem innerstaatlichen Recht zumindest formal bekennen, lassen sich auf internationaler Ebene besser über Verträge oder Gewohnheitsrecht verankern.
Vertiefende Literatur zu D.:
M. Andenas u. a. (Hg.), General Principles and the Coherence of International Law, 2019; A. v. Arnauld, Rechtsangleichung durch allgemeine Rechtsgrundsätze? Europäisches Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht im Vergleich, in: Riesenhuber/Takayama (Hg.), Rechtsangleichung, 2006, 236; B. Cheng, General Principles of Law as Applied by International Courts and Tribunals, 1953 (Reprint 2006); P. Hulsroj, Three sources, no river: a hard look at the sources of public international law with particular emphasis on custom and “general principles of law”, ZÖR 54 (1999), 219; R. Kolb, Principles as Sources of International Law (With Special Reference to Good Faith), NILR 53 (2006), 1; C. Kotuby/L. Sobota, General Principles of Law and International Due Process, 2017; U. Linderfalk, What Are the Functions of the General Principles? Good Faith and International Legal Pragmatics, ZaöRV 78 (2018), 1; P.-Y. Marro, Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, 2010; J. Rauber, Strukturwandel als Prinzipienwandel, 2018; E. Voyiakis, Do General Principles Fill ‘Gaps’ in International Law?, ARIEL 14 (2013), 239; W. Weiß, Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, AVR 39 (2001), 394.
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