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I. Normenkollisionen und Normenhierarchien im Völkerrecht

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In der Praxis wird man sich zur Beantwortung völkerrechtlicher Rechtsfragen zuerst an einschlägigen Verträgen orientieren und erst danach auf Gewohnheitsrecht zurückgreifen. Allgemeine Rechtsgrundsätze schließlich kommen im Anschluss zur Lückenschließung in Betracht. Dies ist keine Frage von Vorrangverhältnissen. Zwischen den verschiedenen völkerrechtlichen Rechtsquellen gibt es keine Hierarchie, etwa dass Verträge Vorrang vor dem Gewohnheitsrecht hätten oder umgekehrt.[90] Die genannte Abstufung ist praktischen Interessen geschuldet: Bei einem Vertrag lässt sich die Geltung leicht feststellen; auch legen die einzelnen Vertragsbestimmungen die Rechte und Pflichten ausdrücklich fest – vorbehaltlich der Auslegung, die dem Juristen Alltagsgeschäft ist. Ohne Not muss man sich also nicht dem oft mühsamen Geschäft aussetzen, die Geltung einer gewohnheitsrechtlichen Regel zu begründen, deren Inhalt am Ende so allgemein (oder umstritten) ist, dass sie für konkrete Fragen nicht immer konkrete Antworten gibt.

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Mit der Lösung am Maßstab des Vertragsrechts allein hat es aber nicht sein Bewenden. Eine Vertragsnorm kann nämlich durch eine nachfolgende Praxis geändert oder sogar gänzlich abbedungen worden sein. Weil es zwischen Vertrag und Gewohnheitsrecht keine Hierarchie gibt, kann ein Vertrag ebenso Gewohnheitsrecht ersetzen, wie Gewohnheitsrecht vertragliche Regeln ablösen kann. Man spricht hier von derogierendem (abbedingendem) Gewohnheitsrecht. Eine solche Derogation ist allerdings nicht vorschnell anzunehmen: Eine vertragswidrige Praxis ist zunächst einmal ein Vertragsbruch. Für den Fortbestand der Vertragsnormen spricht eine gewisse Vermutung. Hier ist der Nachweis nötig, dass die vertragswidrige Praxis auch von einer Rechtsüberzeugung der Vertragsparteien insgesamt getragen ist, sich von der betreffenden Regelung lösen zu wollen. Nicht leicht abzugrenzen ist die derogierende Gewohnheit von einer vertragsausfüllenden und vertragsfortbildenden Praxis (vgl. hierzu Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK, Rn. 230). Letztlich geht es bei der Derogation um die Beseitigung einer ausdrücklich vorgesehenen Regelung.

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Schwierig kann auch die Abgrenzung zu dem Fall sein, dass ein Vertrag mangels Anwendung erlischt, ohne durch eine neue Norm des Gewohnheitsrechts abgelöst worden zu sein. Eine solche sog. desuetudo (Rn. 251)[91] wird man allenfalls annehmen können, wenn ein Vertrag über einen längeren Zeitraum keine Anwendung gefunden hat und die Berufung auf Rechte aus diesem Vertrag als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint. Beruft sich eine Partei auf einen seit langem „eingeschlafenen“ Vertrag, kann das Recht bzw. dessen Ausübung je nach den Umständen des Falles u. U. auch als verwirkt angesehen werden. Auch hierhinter stehen letztlich Gedanken von Treu und Glauben und Vertrauensschutz. Die Verwirkung setzt im Unterschied zur desuetudo an der einzelnen Vertragspartei an und kommt daher v. a. in Fällen in Betracht, in denen eine Vertragspartei besonderen Nutzen aus dem Vertrag zieht. Diese Partei verwirkt dann „ihr“ Recht aus dem Vertrag.

Übersicht: Normenhierarchien im Völkerrecht


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Einen „echten“ Vorrang im Sinne einer Normenhierarchie gibt es nur für das zwingende Völkerrecht (ius cogens), gegen das kein Vertrag verstoßen darf und gegen das sich kein Gewohnheitsrecht entwickeln kann, das nicht seinerseits den Rang von (neuem) zwingenden Recht hat (Rn. 288–294), sowie für die Pflichten aus der UN-Charta (Art. 103)[92]. Im Übrigen sind völkerrechtliche Rechte und Pflichten gleichrangig, wobei nach den allgemeinen Regeln die speziellere Regel der allgemeineren vorgeht (lex specialis derogat legi generali) und die spätere der früheren (lex posterior derogat legi priori). Voraussetzung hierfür ist, dass die Parteien identisch sind. Ein späterer oder speziellerer Vertrag, den die Staaten A und B geschlossen haben, ist für Staat C ohne Relevanz, selbst wenn er denselben Gegenstand betrifft wie ein früheres oder allgemeineres Übereinkommen, das A, B und C gemeinsam getroffen haben.

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Geht ein Staat einander widersprechende Vertragsbindungen mit unterschiedlichen Staaten ein, sind beide Verpflichtungen gleichrangig (es gibt also z. B. keinen Vorrang kraft zeitlicher Priorität). Eine harmonisierende Auslegung nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK scheidet aus, weil diese nur greift, wenn zwei Rechtssätze aufeinandertreffen, die alle Parteien des auszulegenden Vertrages treffen. Ein einseitiges Lösungsrecht gibt hier weder das Vertragsrecht (vgl. Art. 61 Abs. 2 WVK: die Unmöglichkeit der Erfüllung darf nicht selbst herbeigeführt worden sein) noch das Recht der Staatenverantwortlichkeit. Zwar kann theoretisch ein Vertragsbruch durch Notstand (vgl. Art. 25 ASR) gerechtfertigt sein (Rn. 428–429); zur Situation darf der Staat, der einen Notstand geltend macht, aber ebenfalls nicht beigetragen haben. Außerdem muss die Pflichtverletzung die einzige Möglichkeit für diesen Staat sein, ein wesentliches Interesse vor einer schweren und unmittelbar drohenden Gefahr zu schützen. Es ist ihm aber möglich, sich durch Verhandlungen einvernehmlich von einem der Verträge zu lösen oder im Einvernehmen mit allen Vertragspartnern Modifikationen beider Verträge zu erreichen.[93]

Beispiel:

Staat A verpflichtet sich sowohl Staat B als auch Staat C gegenüber zur Rückgabe eines Beutekunstwerks, auf das sowohl B als auch C aus historischen Gründen Anspruch erheben. Beide Verpflichtungen sind rechtlich gleichrangig; A muss beide erfüllen, kann aber nur eine voll erfüllen. Entweder muss er sich mit B oder mit C über eine Auflösung des bilateralen Vertrags einigen oder er muss mit B und C gemeinsam nach einer Lösung suchen, die den Interessen aller Parteien gerecht wird (z. B. eine Wanderausstellung).

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