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1. Genossenschaftlicher Charakter
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Das „Westfälische System“ des Völkerrechts fußt auf der souveränen Gleichheit aller Staaten. Faktische Machtverhältnisse zwischen den Staaten bildet das Völkerrecht in seiner Grundstruktur nicht ab, es gibt also kein „Recht des Stärkeren“. Allerdings kann z. B. im Rahmen Internationaler Organisationen bestimmten Staaten eine Vorzugsstellung eingeräumt sein, vgl. das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat: Voraussetzung ist der Konsens aller Beteiligten hierüber. Dass alle gleich sind und niemanden über sich haben, ist kennzeichnend für den genossenschaftlichen (und damit privatrechtsähnlichen) Charakter des Völkerrechts.
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Dementsprechend können auch völkerrechtliche Bindungen als Beschränkungen der souveränen Handlungsfreiheit eines Staates nur durch einen souveränen Akt der Selbstbindung – durch Vertrag oder durch Gewohnheitsrecht – begründet werden. Daher gilt im klassischen Völkerrecht die Regel, wonach von der Handlungsfreiheit der Staaten auszugehen ist, solange sich nicht eine völkerrechtliche Norm nachweisen lässt, welche die Handlungsfreiheit beschränkt und der sich der handelnde Staat selbst unterworfen hat (so der StIGH im Lotus-Fall, sog. Lotus-Regel).
Lotus-Fall (StIGH 1927)[46]
Bei einer Kollision des französischen Postschiffs „Lotus“ mit der türkischen „Boz-Kurt“ auf hoher See im Mittelmeer kamen im August 1926 acht türkische Seeleute ums Leben. Als der Kapitän der „Lotus“ kurz darauf in Konstantinopel an Land ging, wurde er verhaftet und von einem türkischen Gericht verurteilt. Frankreich klagte hiergegen vor dem StIGH und trug vor, dass nur der Flaggenstaat Strafhoheit für einen Unfall auf hoher See besitze.
Der StIGH wies die Klage ab. Im Völkerrecht bedürfe ein Staat zur Ausübung souveräner Hoheitsrechte keiner besonderen Ermächtigung; da das Völkerrecht vom freien übereinstimmenden Willen souveräner Staaten getragen sei, müsse umgekehrt von umfassender staatlicher Souveränität ausgegangen werden, solange sich dem Völkerrecht kein Rechtssatz entnehmen lasse, der die staatlichen Souveränitätsrechte beschränke: „International law governs relations between independent States. The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“
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Hierdurch erscheint das Völkerrecht vielfach fragmentarisch, weil am Ende u. U. der Rückzug auf die insoweit (noch) nicht beschränkte Souveränität der Staaten steht, die de lege lata (= nach derzeit geltendem Recht) ein Verhalten gestattet, das man „eigentlich“ für missbilligenswert hält. In seinem traditionellen Verständnis bildet das Völkerrecht keine Werteordnung, in der moralische Kategorien in gewissem Grade verrechtlicht wären. Das Völkerrecht in seinem klassischen Verständnis war ein Mittel, konkrete Interessen der Staaten international zu koordinieren, nicht eine in sich geschlossene „Völkerrechtsordnung“ für eine „Völkerrechtsgemeinschaft“ zu schaffen.
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Insbesondere durch das Bekenntnis zu universellen Menschenrechten hat das Völkerrecht allerdings in den Jahrzehnten nach 1945 verstärkt eine Wertorientierung erhalten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 stellt eine Art globales „Glaubensbekenntnis“ zu gemeinsamen Werten der Völkerrechtsgemeinschaft dar. Kennzeichnend für dieses neue Gemeinschaftsdenken ist namentlich die Figur des ius cogens, des zwingenden Völkerrechts, das den Staaten absolute Handlungsverbote auferlegt (z. B. Verbot von Völkermord und Sklaverei, Verbot des Angriffskrieges sowie Kerngewährleistungen der Menschenrechte, vertiefend Rn. 288–294). Dieses ist nach der Definition in Art. 53 WVK
eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.
Formal wird das ius cogens mit dieser Definition zwar in das genossenschaftliche Modell eingegliedert (theoretisch könnte eine zwingende Norm ja von der internationalen Staatengemeinschaft als ganzer durch eine andere zwingende Norm abgelöst werden – praktisch ist dies kaum vorstellbar); dennoch stellt es einen Paradigmenwechsel dar, weil es der staatlichen Handlungsfreiheit Grenzen errichtet, über die nur alle Staaten gemeinsam verfügen können.