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1. Innere Dimension
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Im Innern ist Staatsgewalt die souveräne (= unabgeleitete, autonome) Machtausübung des Staates durch Gestaltung und Aufrechterhaltung einer öffentlichen Ordnung. Diese Staatsgewalt muss effektiv sein. Die Effektivität kann v. a. durch Bürgerkrieg in Frage gestellt sein (sog. gescheiterte Staaten, failing oder failed states, z. B. Somalia seit 1991). Selbst bei Fortfall der Staatsgewalt entfällt aber im Interesse der Stabilität in den internationalen Beziehungen nicht sogleich die Staatlichkeit (Kontinuitätsgrundsatz). Ansonsten drohten Übergriffe anderer Staaten, die sich das Gebiet (das damit wieder terra nullius wäre) anzueignen versuchten. Die Auffassung, wonach die Aufrechterhaltung der Staatlichkeit hier allein dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes diene, weswegen alle Interventionen ausländischer Mächte, die nicht gegen dieses Selbstbestimmungsrecht verstießen, rechtmäßig seien,[44] ist gewohnheitsrechtlich nicht etabliert und lässt die befriedende Wirkung außer Acht, die von der Konservierung der Staatlichkeit bei failed states ausgehen soll. Wegen der Missbrauchsgefahr abzulehnen ist auch der Versuch, unilaterale Interventionen im Sinne einer „völkerrechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag“ auf einen (kaum zu ermittelnden) mutmaßlichen Willen des gescheiterten Staates zu stützen.[45] Erst in extremen Fällen langjähriger Abwesenheit jeglicher (d. h. nicht bloß staatlicher, sondern auch internationalisierter) Hoheitsgewalt könnte man theoretisch völkerrechtlich von einem Untergang des Staats ausgehen.[46] Wie sich am Beispiel Somalias, das seit dem Bürgerkrieg 1991 weitgehend zerfallen ist, ablesen lässt,[47] bemüht sich die internationale Gemeinschaft, den Zerfall staatlicher Strukturen durch Friedensmissionen zu verhindern und ein etwaiges Machtvakuum zu füllen. Ein derartiges multilaterales Vorgehen ist für den Umgang mit dem Problem zerfallender Staatlichkeit alternativlos; ein Recht auf unilaterale Intervention existiert nicht.
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Die Legitimität der Staatsgewalt spielt für die Staatsdefinition keine Rolle – das Völkerrecht zeigt sich erneut blind für staatsinterne Vorgänge. Ansonsten würde das souveräne Recht der Staaten zur Wahl ihres eigenen politischen Systems beeinträchtigt. Hinzu tritt die Notwendigkeit, die Einhaltung des Völkerrechts zu garantieren. Dies vermag nur eine effektive Regierung. Käme es zusätzlich auf deren Legitimität an, bestünde die Gefahr, dass sich eine von anderen Staaten als illegitim eingestufte Regierung an die Spielregeln des Völkerrechts nicht gebunden fühlt. Außerdem trüge es in den zwischenstaatlichen Verkehr erhebliche Rechtsunsicherheit, wenn nur eine legitime Staatsgewalt den Status als Völkerrechtssubjekt vermitteln könnte.
Dasselbe gilt, wenn zwar nicht die Existenz als Staat an sich in Frage gestellt wird, sondern mangels legitimer Regierung der Anspruch eines (existierenden) Staates auf Achtung seiner Souveränität, die den Schutz durch Gewalt- und Interventionsverbot vermittelt. Zum großen Teil verlagert sich daher die völkerrechtliche Diskussion über die Legitimität von Staatsgewalt auf die Frage der Anerkennung von Regierungen. Hier bleiben die souveränen Rechte formal unangetastet; umstritten ist aber, wer den Staat aus Sicht des Völkerrechts repräsentiert (dazu näher Rn. 100–102). Ein angebliches Recht auf eine externe demokratische Intervention hingegen, das von vornherein den Anspruch auf staatliche Souveränität negiert, wenn die Regierung nicht bestimmte demokratische Standards achtet, wäre verhängnisvoll für die Aufrechterhaltung des Friedens und würde zudem das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung unterminieren.[48] Demokratieexport mit militärischen Mitteln verstößt gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 UNCh.
De lege ferenda könnte sich allerdings das Konzept einer Schutzverantwortung (responsibility to protect) als Basis einer Neubestimmung souveräner Staatlichkeit erweisen. Kerngedanke ist dabei, Souveränität nicht als bedingungslos zu definieren, sondern an den Zweck des Schutzes der Bevölkerung zu koppeln. Ein Staat, der seinen Bürgern elementaren Schutz vorenthält, indem er nicht willens oder nicht in der Lage ist, Völkermord, ethnische Säuberungen oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu unterbinden, verwirkt diesem Konzept zufolge gewissermaßen seine Souveränität; dies soll Eingriffe durch die internationale Gemeinschaft ermöglichen (Rn. 314–315). Legitimiert sollen auf diese Weise nicht nur Kriseninterventionen im engeren Sinne sein, sondern auch Krisenprävention und Krisennachsorge (responsibility to prevent, to react and to rebuild). Dieses Konzept schafft keine neuen Handlungsinstrumente, sondern systematisiert die vorhandenen Instrumente stärker und deutet sie „anti-etatistisch“ von den Menschen und ihrer Schutzbedürftigkeit her. Mit der Libyen-Resolution 1973 hatte der UN-Sicherheitsrat 2011 erstmals die Autorisierung ausländischer Militäraktionen darauf gestützt, dass eine Regierung ihre Verantwortung zum Schutz der eigenen Bevölkerung verletzt hat.[49] Die Überschreitung des Mandats durch die Intervenienten in Libyen hat indes im Fall des Bürgerkriegs in Syrien zu einer ambivalenteren Haltung des Sicherheitsrates geführt.[50]