Читать книгу Klausurenkurs im Völkerrecht - Andreas von Arnauld - Страница 10
1. Genossenschaftlicher Charakter
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Zunächst fehlt es dem Völkerrecht an einer zentralen Rechtsetzungsinstanz, die schnell und bedarfsgerecht neues Recht schaffen könnte. Das klassische Völkerrecht ist ein genossenschaftliches Recht, bei dem jeder Rechtsgenosse nur solche Pflichten zu erfüllen hat, die er zuvor selbst freiwillig übernommen hat.[3] Dies führt dazu, dass das Völkerrecht vielfach fragmentarisch erscheint, weil am Ende u. U. der Rückzug auf die insoweit (noch) nicht beschränkte Souveränität der Staaten steht,[4] welche de lege lata (d. h. nach geltendem Recht) ein Verhalten gestattet, das man „eigentlich“ für missbilligenswert hält.
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In ihrem traditionellen Verständnis ist die Völkerrechtsordnung keine Werteordnung, in der moralische Kategorien in gewissem Grade verrechtlicht wären. Mehr als im innerstaatlichen Recht begegnet einem im Völkerrecht die fast sprichwörtliche „normative Kraft des Faktischen“[5] und damit die Umkehrung des Satzes, wonach aus einem Rechtsbruch kein Recht entstehen könne. Gerade wenn sich eine neue Norm des Gewohnheitsrechts herausbildet, werden die ersten Anwendungsfälle in aller Regel gegen das bisherige Recht verstoßen: ex iniuria ius oritur („geht aus Unrecht Recht hervor“)?
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Freilich gibt es in der Entwicklung des Völkerrechts nach 1945 Anzeichen eines Wandels, der durch das Ende des Ost-West-Konflikts noch beschleunigt worden ist.[6] Verstärkt werden universelle moralische Grundsätze durch vielfältige Vertragspraxis und Erklärungen von Staaten und Internationalen Organisationen in den Rang von Recht erhoben und als rechtlich bindend betrachtet: Universelle Menschenrechte oder die Kategorie der völkerrechtlichen Verbrechen können als Keimzellen einer völkerrechtlichen Werteordnung angesehen werden.[7]
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Kennzeichnend hierfür ist vor allem die Figur des ius cogens, des zwingenden Völkerrechts.[8] Dieses ist nach der Definition in Art. 53 WVK „eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden darf“. Die im Nachsatz angesprochene Möglichkeit der Ablösung fügt die Rechtsfigur technisch zwar in das genossenschaftliche Modell ein; der Sache nach aber ist die Einwilligung aller Staaten in solche Vorschriften, die heute als „zwingendes Völkerrecht“ gehandelt werden, eher Theorie als Praxis – der Idee wohnt ein gewisses utopisches Potenzial inne. Es steckt in ihr aber auch das Potenzial, oberste werthaltige Grundsätze des Völkerrechts (z. B. Genozidverbot, Verbot des Sklavenhandels, Gewaltverbot) gegen abweichende Staatenpraxis weitgehend zu immunisieren. Über die Dimension erga omnes, also allen anderen Staaten gegenüber obliegender, Pflichten, die vor allem bei solchen Verpflichtungen angenommen wird, die als ius cogens qualifiziert sind, wird der Gemeinschaftsgedanke im an sich lockeren völkerrechtlichen Verbund stärker betont.[9]
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Soweit zumindest die Theorie. Die Hoffnungen, dass die Vereinten Nationen sich als eine Art „Weltregierung“ würden etablieren können, die, mit Zwangsgewalt ausgestattet, auch schnell reagieren kann, wo ein Rechtsbruch den Frieden und die internationale Sicherheit gefährdet, hat sich nur teilweise erfüllt.[10] Hier bleibt abzuwarten, ob die seit langem geplante Reform der UNO gelingt und ob sie Entscheidungsprozesse effektiver zu gestalten vermag.