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Die Sonderkultur des Südens

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Die Südstaaten nahmen durchaus am Prozess der Kommerzialisierung und marktwirtschaftlichen Integration teil, blieben aber kulturell doch viel stärker der Vergangenheit zugewandt. Im SüdenSüden bildeten sich eigene Sitten, Wertvorstellungen, Verhaltensmuster und Rechtsverhältnisse heraus. Es entstand eine eigentümliche Mischung aus paternalistischen und demokratischen, traditionellen und modernen Elementen, eine Gesellschaft, die kapitalistisches Gewinnstreben und das Ideal der Ritterlichkeit ohne weiteres miteinander vereinbaren konnte. Das Sklavereisystem, auf dem die WirtschaftWirtschaft fußte und das man euphemistisch als peculiar institutionpeculiar institution umschrieb, wirkte in alle Daseinsbereiche hinein. Es grenzte den Süden nicht nur sozial und kulturell vom Norden ab, sondern teilte die Region selbst in eine dominante weiße und eine eher im Verborgenen existierende afroamerikanischeAfroamerikaner Lebens- und Kulturgemeinschaft. Dabei war schon der weiße Süden alles andere als homogen und monolithisch. Ein Viertel aller Familien besaß Sklaven, aber die Hälfte von ihnen weniger als fünf, und nur etwa 3000 Pflanzerfamilien (= ein Prozent) konnten über mehr als 100 Sklaven verfügen. Die größte Bevölkerungsgruppe machten nicht die wohlhabenden oder weniger wohlhabenden Sklavenhalter und die mit ihnen eng verbundenen Berufe wie Händler und Anwälte aus, sondern die Familienfarmer (yeomen), die über den Eigenbedarf hinaus für den Markt produzierten. Weitere 10 Prozent der insgesamt 8,8 Millionen weißen Südstaatler lebten 1860 in ärmlichen Verhältnissen in den unfruchtbaren pine barrens des Hinterlandes und betrieben Subsistenzwirtschaft. Diese sozialen Unterschiede wurden durch den Stadt-Land-Gegensatz und eine regionale Differenzierung ergänzt, denn die Lebensverhältnisse in den Küstenregionen und im MississippideltaMississippi (Fluss) wichen erheblich von denen im dünn besiedelten Landesinnern und an der südwestlichen FrontierFrontier ab.

Es gab also durchaus Interessengegensätze, insbesondere zwischen den Pflanzern und Händlern auf der einen und den Farmern und Pionieren auf der anderen Seite, die ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit bedroht sahen. Dennoch verband die weiße Bevölkerung eine Solidarität, die sich zum BürgerkriegBürgerkrieg hin in einen regelrechten Südstaaten-Nationalismus steigerte. Diese Solidarität erwuchs zum einen aus rassischen SuperioritätsgefühlenAfroamerikanerRassismus gegenüber den Schwarzen, zum anderen aus dem geistigen Bann, in den Konzepte und Bilder der Pflanzerideologie wie „Ritterlichkeit“, „Stolz“, „Ehre“, der „Kavalier“ oder die „Southern Lady“ auch die einfachen Weißen schlugen. In der Öffentlichkeit und in den Parlamenten, wo die Pflanzerelite zwar noch überrepräsentiert war, aber keineswegs mehr allein das Sagen hatte, herrschte Einmütigkeit über die besonderen Tugenden und moralischen Vorzüge des southern way of life. Nahezu ohne Widerspruch vollzog sich seit der Jahrhundertwende der Übergang von einer defensiven zu einer offensiv-kämpferischen Rechtfertigung der SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) als eines positiven Guts. Dieses neuartige pro-slavery argument, das bis zu einem gewissen Grade eine Reaktion auf den AbolitionismusAbolitionisten darstellte, hatte viele Facetten: Aus der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart leitete man ab, dass Ungleichheit eine natürliche menschliche Bedingung sei; der SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) wurde eine Schutzfunktion für die sozial Schwachen zugeschrieben, die den „Lohnsklaven“ in den Fabriken des Nordens versagt blieb; die Bibel ließ sich so auslegen, dass die SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) als ständige Herausforderung an die Weißen erschien, Nächstenliebe zu üben. Eine solche Position bezogen die KirchenKirchen im SüdenSüden ganz offiziell, was in den 1840er Jahren zur Spaltung der MethodistenMethodisten und BaptistenBaptisten in je einen nördlichen und südlichen Flügel führte. Insgesamt schloss sich der weiße Süden immer enger zusammen, um seine Interessen und seine überlieferten Werte und Ideale gegen die Bedrohung zu verteidigen, als die er die individualistische und egalitäre Gesellschaft des Nordens wahrnahm.

Es spricht für die Belastbarkeit und den Durchhaltewillen der AfroamerikanerAfroamerikaner, dass sie unter dem extremen Druck eines rassischen Ausbeutungssystems zumindest ein gewisses Maß an kultureller Autonomie und Identität wahren oder entwickeln konnten. Trotz der in vieler Hinsicht offenkundigen Brutalität und Unmenschlichkeit der SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) ließ die nordamerikanische Variante dieses globalen Phänomens ihren Opfern Spielräume, die sie zu nutzen verstanden. Um 1840 war bereits die Mehrheit der 2,5 Millionen SklavenAfroamerikanerBevölkerungsentwicklung in Amerika geboren, und es gab – anders als in der KaribikKaribik und Südamerika, wo die Männer überwogen – etwa gleich viele schwarze Männer und FrauenAfroamerikanerFrauen. Im Laufe der folgenden 20 Jahre stieg die Zahl der Sklaven fast ausschließlich durch natürliche Vermehrung noch einmal um ca. 1,4 Millionen an, und der Schwerpunkt der afroamerikanischen Bevölkerung verlagerte sich durch eine erzwungene BinnenwanderungAfroamerikanerBinnenwanderung von der Ostküste zum MississippideltaMississippi (Fluss). Zwar arbeiteten die meisten Sklaven und Sklavinnen nach wie vor auf den Baumwollplantagen (1860 ca. 60 Prozent), aber eine wachsende Zahl war in Handwerksbetrieben tätig bzw. wurde von den Besitzern als ArbeiterArbeiter an Manufakturen und Industriebetriebe „ausgeliehen“ oder „vermietet“. Die ca. 250.000 freien Schwarzen des Südens fanden vor allem als Handwerker, Kleinhändler und Dienstleistende (z.B. Friseure) in den größeren Gemeinden ein Auskommen. Einige Städte wie New OrleansNew Orleans wiesen einen relativ hohen Anteil von mixed-race Personen und freien Schwarzen (gens de couleur libre) auf, die als Elite in der Spannung zwischen Rassensolidarität und Anpassung an weiße Normen standen. Nach der Sklavenemanzipation auf den britischenGroßbritannien KaribikinselnKaribik und in MexikoMexiko engten allerdings viele Südstaaten aus Angst vor Rebellionen den Bewegungsspielraum der freien AfroamerikanerAfroamerikaner durch Zusätze zu ihren slave codes wieder erheblich ein.

Diese Aufstandsfurcht, die den weißen SüdenSüden seit der haitianischen Revolution und der 1800 in VirginiaVirginia aufgedeckten, durch das Geschehen in der KaribikKaribik inspirierten Verschwörung des Gabriel ProsserProsser, Gabriel plagte, war nicht völlig unbegründet. 1822 wurde eine von dem freien Schwarzen Denmark VeseyVesey, Denmark geplante Erhebung mehrerer tausend Sklaven in South CarolinaSouth Carolina kurz vor ihrem Beginn vereitelt, und 1831 fielen 59 Menschen dem Mordzug des visionären schwarzen Predigers Nat TurnerTurner, Nat durch Southampton County, VirginiaSouthampton County, Virginia, zum Opfer. Angesichts der militärischen Überlegenheit der Sklavenbesitzer konnte das System als solches jedoch auf gewaltsame Weise – sei es durch kollektive Aktionen oder durch einzelne Mordanschläge – nicht erschüttert werden. Widerstandsbereiten Sklaven boten sich Alternativen wie Sabotage (z.B. Zerstörung von Werkzeugen und Maschinen bis hin zur Brandstiftung), Arbeitsverweigerung (etwa durch Vortäuschen von Krankheit) oder Flucht (in den Norden, nach Mexiko oder in die Anonymität freier schwarzer Gemeinden). Sehr häufig kam es auch zu spontanen Konfrontationen zwischen individuellen Sklaven und ihren Aufsehern oder Besitzern, die häufig mit der Flucht des Sklaven endeten. Die Schätzungen, wie viele Schwarze nach 1830 auf eigene Faust oder über die underground railroad in den Norden und in das „gelobte Land“ KanadaKanadaUS Sklaverei gelangten, variieren zwischen 30.000 und 100.000. Besondere Verdienste als Fluchthelferin erwarb sich die ehemalige Sklavin Harriet TubmanTubman, Harriet, die selbst von einer Plantage in MarylandMaryland floh und später über 70 Verwandten und Nachbarn zur Flucht verhalf. Von einer weitgehenden „Zufriedenheit“ der AfroamerikanerAfroamerikaner, wie lange Zeit in der Literatur behauptet wurde, kann jedenfalls keine Rede sein. Am häufigsten war aber wohl das schlichte Bemühen, sich so gut wie möglich einzurichten und das Leben in der SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) erträglich zu gestalten. Hier liegen die Wurzeln für eine distinkte afroamerikanische Kultur.


Abb. 6: Harriet Tubman Anfang der 1870er Jahre

Da die Kleinfamilie jederzeit auseinandergerissen werden konnte, und da junge Sklavinnen häufig Opfer sexueller Ausbeutung durch ihre Besitzer wurden, kam dem größeren Familienverband zentrale Bedeutung zu. Unter seinem Dach entwickelte sich eine spezifische schwarze Familienmoral, die enge Bindungen an die Verwandten (kinship ties) betonte und Nachbarn verpflichtete, notfalls Verwandtschaftsrollen zu übernehmen. Einen weiteren wesentlichen Bezugspunkt im Leben der Sklaven bildete die ReligionReligion, zum Teil noch in Form von afrikanischenAfrika Kulten, hauptsächlich aber als protestantisches Christentum, zu dem sich seit Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr Schwarze bekannten. Auf ganz charakteristische Weise hatten sie teil an den Erweckungsbewegungen des frühen 19. Jahrhunderts: Schwarze Prediger, zumeist MethodistenMethodisten oder BaptistenBaptisten, übertrugen in ihrer Bibelauslegung die Vorstellung vom „auserwählten Volk“ auf die versklavten Brüder und Schwestern und gaben ihnen Hoffnung, dass Gott sie aus der „ägyptischen Gefangenschaft“ erlösen und die ungerechten weißen Herren bestrafen werde. Dagegen begannen Unterschiede, die aus der Zeit vor der Versklavung herrührten, zu verblassen. So wurden zwar noch heimatliche Dialekte gesprochen, aber die meisten Schwarzen verständigten sich untereinander und mit den Weißen in einer selbstgeschaffenen Sprache (GullahGullah), die englische Vokabeln mit grammatischen Formen aus AfrikaAfrika verband und in den Carolinas gesprochen wurde, oder in Mundarten des Englisch (pidgin oder Black English). Das kulturelle Erbe AfrikasAfrika lebte vor allem im Tanz, in der expressiven Musik und den Gesängen (spirituals) fort, die Gottesdienste und Familienfeste belebten und eine Art seelische Therapie gegen die eintönige Arbeit boten. Aus allen diesen Elementen – Familie, Sprache, Religion, Kunst – formte sich ein Bewusstsein der Andersartigkeit und der Verbundenheit, die sich im Untergrund formierte. Was den schwarzen Sklaven – im Unterschied etwa zu den russischen leibeigenen Bauern – jedoch fehlte, waren Ansätze einer politischen Organisation und Selbstverwaltung. Es blieb bei einer afroamerikanischenAfroamerikanerKultur Subkultur, die dazu beitrug, den Unterschied zwischen Norden und SüdenSüden noch mehr zu betonen. Als wirtschaftliches System „funktionierte“ die SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) bis in den Bürgerkrieg, aber der Preis, den der Süden dafür entrichten musste, war eine tief gespaltene, auf Gewalt gegründete und deshalb letztlich instabile Gesellschaft.

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