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5 Mailand, Baustelle, August 1776
ОглавлениеFrüher als sonst stand Marcello am nächsten Morgen auf. Er strotzte vor Tatendrang. Rechtzeitig erreichte er die Piazza vor der großen Kirche Santa Maria alla Scala.
Die Hilfsarbeiter von Filippo Moro hatten bereits angefangen, die Männer einzuteilen.
Marcello musste mit anderen Bauarbeitern die großen Steinplatten des Kirchenvorplatzes lösen und beiseite räumen. Den restlichen Tag brachte er damit zu, Schutt und Steine in eine Holzwanne zu schaufeln und diese auf Pferdefuhrwerken auszuschütten. Er schuftete wie ein Ochse. Marcello spürte die prüfenden Blicke der Vorarbeiter und Arbeitseinteiler, die genau schauten, was jeder der Männer zu leisten vermochte.
Am Abend kam er todmüde von der Arbeit nach Hause, stieg die vielen Stufen zu seiner Kammer hoch und spürte alle Muskeln seines Körpers, ja selbst solche, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Marcello war so erschöpft, dass er sich in seinen staubigen Kleidern auf die Pritsche fallen ließ und sofort einschlief.
Von da an glich ein Tag dem anderen. Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit. Doch nicht allein die körperlichen Strapazen machten ihm zu schaffen. Es gab so viele neue Eindrücke, dass er abends oft nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand.
Marcello und Armando hatten schon früher gelegentlich bei einem Baumeister geholfen. Doch das waren immer nur Reparaturen gewesen. Eine gesprungene Treppenstufe musste ausgetauscht oder ein gebrochener Fenstersturz ausgebessert werden.
Der Umstand, dass dem Bau der Oper das Ende der Kirche Santa Maria alla Scala vorangehen würde, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Stein für Stein musste die altehrwürdige Kirche abgetragen werden, um Platz für das neue Opernhaus zu schaffen.
An den ersten beiden Tagen war Marcello erstaunt gewesen, wie viele geistliche Würdenträger die Baustelle bevölkert hatten. Die Kirchenmänner standen meist in kleinen Gruppen beieinander. Allen Geistlichen waren die Wut und der Widerwillen darüber anzumerken, dass ein Gotteshaus dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Während Marcello schwere Steinbrocken auf ein Fuhrwerk lud, wurde er Zeuge eines merkwürdigen Gesprächs.
„Ich kann es immer noch nicht fassen: Eine Kirche wird durch ein Opernhaus ersetzt! So etwas hat es in Mailand noch nie gegeben!“, hörte er einen kleinen, drahtigen Mönch schimpfen.
„Ja, so hat die Obrigkeit entschieden. Kardinal Ricci hat eigens die beschwerliche Reise an den Hof nach Wien auf sich genommen, um den Abriss der Kirche zu verhindern. Doch die sture Kaiserin hat sich nicht mehr umstimmen lassen“, erregte sich ein anderer Mönch.
Marcello konnte die Kuttenträger verstehen. Allerdings hatte er mit eigenen Augen gesehen, dass sich das Gebäude wirklich in einem erbärmlichen Zustand befand.
Santa Maria alla Scala glich eher einer baufälligen Ruine denn einer stolzen Kirche. Es war unter Mailands Gläubigen schon seit langer Zeit bekannt, dass hier keine Messen mehr gelesen wurden. Die schwere hölzerne Kirchenpforte mit ihren kunstvoll geschmiedeten Eisennägeln war seit mehr als fünf Jahren verschlossen. Auch das Geläut rief schon lange keinen Christenmenschen mehr zum Gebet und ließ auch nicht mehr vernehmen, was die Stunde geschlagen hatte. Die Kastanienstämme, die für die Konstruktion des Glockenstuhls verwendet worden waren, hatten dem Gewicht der Bronze nicht mehr standhalten können. Das Holz war morsch und brüchig geworden, und die Glocken hatten die Decke durchschlagen und waren auf dem Boden zerborsten. Es grenzte seinerzeit fast an ein Wunder, dass das Geläut niemanden unter sich begraben hatte.
Auch das Dach war an manchen Stellen eingebrochen und statt Kerzen erleuchtete nun das Azurblau des Himmels das Kirchenschiff. Das Gewölbe der Apsis war gänzlich zerstört, der Fußboden mit aus den Wänden gebrochenen Steinquadern übersät. Einige Säulen neigten sich so schief wie Türme, die Kinder aus Steinen und Holzstücken aufeinanderstapeln, bis sie aus der Balance geraten und in sich zusammenfallen.
Die alten Hausherren packten alles ein, was ihnen gehörte und wichtig war. Akribisch wachten sie darüber, wie die Gegenstände auf bereitstehende Ochsenkarren verladen wurden.
Vorsichtig lösten die Bauarbeiter die Weihwasserbecken aus ihren Verankerungen; für solch heilige Güter würde in einem Opernhaus keine Verwendung mehr sein. Auch die Grabplatten, unter denen die Söhne der Kirche ruhten, wollte der Klerus nicht zurücklassen. Es waren kunstvoll gefertigte Reliefs, viele aus kostbarstem Marmor, unter denen die leiblichen Überreste der Kirchenväter für immer eine Ruhestätte hätten finden sollen. Nun wurden die Mönche Zeugen der Schändung, als die verbliebenen Relikte menschlicher Existenz ausgegraben und umgebettet wurden.
Nur zur Essenszeit sahen sich Marcello und Armando regelmäßig, sonst waren sie meist zu verschiedenen Arbeiten eingeteilt. Inzwischen gab es hier eine fahrende Küche, die dafür sorgte, dass die Arbeiter für ein paar Lire mit Suppe, Brot oder einem Stück Käse versorgt wurden.
Signora Cuccini führte dort das Regiment und schwang den Kochlöffel. Sie war nicht mehr ganz jung – eine Frau, deren Alter man nicht richtig einzuschätzen vermochte. Ihr schallendes Lachen war oft schon von Weitem zu hören. Sie wusste, dass die Portionen nicht groß genug sein konnten, um den Hunger der Bauarbeiter zu stillen. Sie kannte die Vorlieben der Männer und würzte ihr Essen mit derben Scherzen, sodass trotz aller Anstrengungen und Schufterei die Mittagspause bei ihr stets ein Höhepunkt des Tages war. Signora Cuccini zog alle Männer in ihren Bann. Schon nach wenigen Tagen wusste sie die Namen der ganzen Mannschaft. Bei ihr erfuhr man spannende Neuigkeiten aus erster Hand, und so war ihre Gerüchteküche bald genauso beliebt wie ihr Essen.
„Hast du’s schon gehört?“ Schmatzend klopfte Armando Marcello auf die Schulter. „Wir kriegen gleich Besuch. Der Architekt kommt zur Besichtigung. Wisch dir lieber den Mund ab, sonst denkt der, du bist nur wegen des Essens hier.“
„Woher weißt du, dass der Architekt kommt?“ Marcello hatte keine Lust, auf die Frotzelei seines Freundes einzugehen.
„Tja, das sind meine guten Beziehungen zur Küche. Die Cuccini hat’s mir im Vertrauen erzählt.“
„Dir und allen andern, nehm ich an.“
Die Männer, die mit ihnen zusammen auf der Holzbank saßen, schmunzelten. Claudio, der direkt neben Marcello hockte, mischte sich in die Unterhaltung ein. „Diesen Piermarini hab ich schon einmal gesehen. In Mantua. Der weiß, was er will, und wenn dem was nicht passt, dann spritzen die Funken!“
„Und angezogen ist er wie ein Gockel“, pflichtete ein weiterer Arbeiter bei. „Ich kenn ihn auch. Rote Hose, blauer Wams und grüner Hut mit Federbusch. Seine Perücke war so stark gepudert, dass alle niesen mussten, die in seine Nähe kamen. Madonna mia! Und klein ist er, aber schreien kann der Zwerg, das könnt ihr mir glauben!“
„Schaut lieber, dass alles aufgeräumt ist!“ Unwirsch raunzte einer der Vorarbeiter die Gruppe an und schwang den Besen drohend in ihre Richtung. „Sonst lernt ihr ihn gleich richtig kennen. Wenn er was nicht leiden kann, dann Schlamperei. Schluss mit dem Gerede! Esst schneller und dann zurück an die Arbeit.“
Murrend schlangen die Arbeiter die letzten Bissen hinunter. In diesem Moment fuhr eine schwarze, elegante, offene Kutsche auf den Kirchenvorplatz zu.
„Wenn man vom Teufel spricht!“, zischte Claudio den anderen Männern zu und stellte hastig seine Suppenschüssel auf der Bank ab.
Kaum war die Kutsche zum Stehen gekommen, als auch schon ein kleiner drahtiger Mann heraussprang. Mit seiner gelben, eng anliegenden Seidenhose, einem roten Jackett mit goldenen Knöpfen und einer modischen Wasserfallkrawatte war er eine sehr auffallende, respekteinflößende Erscheinung. Ungeduldig drehte er sich zu der Gruppe Männer um und schrie: „Seid ihr hier zum Essen angestellt? Wo ist der Bauleiter?“
Filippo Moro eilte aufgeregt mit rotem Kopf auf den Architekten zu und buckelte unterwürfig.
„Hat man dir nicht gesagt, dass ich komme? Ich hab keine Zeit, mir hier die Beine in den Bauch zu stehen.“
Marcello flüsterte Armando leise ins Ohr: „Mit dem ist wirklich nicht gut Kirschen essen. Die anderen haben nicht übertrieben. Dem gehen wir besser aus dem Weg!“
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er, wie der Architekt mit dem Bauleiter im Inneren der Kirchenruine verschwand. Erleichtert atmete er auf und begann wieder Schutt in seinen Holztrog zu schaufeln. Er warf aus der Entfernung einen Blick auf die prächtige Kutsche mit den zwei braunen Rappen.
Der Kutscher, der ein graues Livree und einen schwarzen, breitkrempigen Hut trug, war vom Bock heruntergestiegen und richtete das Zaumzeug und die Trensen der edlen Pferde.
Noch nie hatte Marcello ein so elegantes Gefährt gesehen. Die Speichen der Räder waren mit Blattgold überzogen. Das schwarze Ebenholz glänzte in der Mittagssonne. Marcello bewunderte gerade das kunstvolle rot-weiße Wappen auf der Kutschentür, in dessen Mitte ein Falke abgebildet war. Plötzlich nahm er eine Bewegung im Inneren der Kutsche wahr. Im Wagen saß eine junge, vornehme Frau. Offenbar wartete sie auf die Rückkehr des Architekten.
Marcellos Herz begann schneller zu schlagen. Was für eine wunderschöne Frau! Ihr leuchtend rotes Haar war elegant zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt, die von Perlmuttnadeln und Schildpattkämmen gehalten wurde. Ihre feinen, ebenmäßigen Gesichtszüge waren bezaubernd. Nur ihr großer Mund störte die Symmetrie des Anblicks und passte nicht so ganz zu dem vornehmen Bild.
Marcello konnte seinen Blick nicht von der Schönen lösen.
In ihrer rechten behandschuhten Hand hielt sie einen lindgrünen, spitzenbestickten kleinen Sonnenschirm, mit dem sie sich vor der Nachmittagssonne schützte. Sie trug ein dekolletiertes grünes Sommerkleid, das eine Nuance dunkler war als der Sonnenschirm. Die Farbe hob ihren Porzellanteint noch mehr hervor. Niemals zuvor hatte Marcello im Sommer ein so bleiches Gesicht erblickt.
Er wagte nicht, die Schöne weiter zu beobachten. Hastig beugte er sich erneut über den Schuttberg, der vor ihm lag, und schaufelte weiter. Sein Herz schlug heftig. Hoffentlich hatte die vornehme Dame sein ungehöriges Benehmen nicht bemerkt. Wenn sie dem Architekten erzählen würde, wie schamlos er sie angestarrt hatte, anstatt zu arbeiten, dann könnte er sich gleich nach einer neuen Arbeit umsehen. Marcello türmte Schutt und Erde in den Holztrog. Sein Hemd klebte am Rücken, der Schweiß lief ihm in Strömen über die Stirn. Die Luft flirrte vor Hitze. Nachdem er den Trog randvoll gefüllt hatte und auf seine Schultern hob, wagte er erneut einen kurzen Blick in Richtung der jungen Frau. Sie saß noch immer fast reglos in der Kutsche und starrte auf die große Kirchentür, hinter der der Architekt verschwunden war.
Auf einmal trat Giuseppe Piermarini mit Filippo Moro an seiner Seite wieder aus der Kirche heraus.
„Signore Piermarini, ich werde heute noch die Flaschenzüge an den von ihnen bestimmten Stellen montieren lassen. Ich schätze, wir werden in einer guten Woche das ganze Kirchenschiff abgetragen haben“, hörte Marcello den Bauleiter geschäftig sagen.
„Gut, Moro. Schau zu, dass es vorwärts geht. Ich kümmere mich solange um das Übergangstheater. Es muss so schnell wie möglich fertig werden, damit das Musikleben in Mailand wieder aufgenommen werden kann. Dies geschieht auf ausdrücklichen Wunsch der Kaiserin! Das Teatro interinale muss spätestens nächsten Monat seine Pforten öffnen. Frühestens nächste Woche komme ich wieder bei dir vorbei.“
Grußlos wandte sich Piermarini um und lief zur Karosse. Der Kutscher öffnete ihm beim Einsteigen die Tür und Piermarini ließ sich neben der jungen Frau in die Polster fallen. „Allora, Abfahrt!“ Mit einem Peitschenknall brachte der Kutscher die Rösser in Trab und der Wagen rollte zügig vom Platz.
Kaum war die Kutsche außer Sichtweite, als Armando zu seinem Freund eilte.
„Holla, holla, das kommt nicht alle Tage vor, dass man so eine schöne Contessa zu Gesicht bekommt. Die haben die Adligen sonst in ihren Palazzi weggesperrt.“
„Ich bin froh, dass du sie auch angestiert hast. Hatte schon gedacht, ich wär der Einzige. Wer die wohl war?“
„Vielleicht war’s seine Frau oder seine Mätresse?!“
„Mein Gott, muss der Mann glücklich sein!“