Читать книгу Die Schlangenmaske - Annabelle Tilly - Страница 14
9 Mailand, Armenfriedhof, September 1776
ОглавлениеMarcellos Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Der neue Tag auf der Baustelle wollte nicht vorübergehen; mechanisch tat der junge Mann, was man von ihm verlangte. Wie in Trance hämmerte er den Mörtel aus den Fugen der großen Steinquader der Kirche Santa Maria alla Scala.
Er nahm nicht einmal wahr, dass Armando immer wieder zu ihm herüber blickte. Der Freund spürte, dass Marcello nur mit größter Mühe seine Arbeit bewältigte, ohne dass er sich anmerken ließ, was sie in der letzten Nacht durchgemacht hatten.
Endlich war der Tag überstanden. Marcello hatte noch einen schweren Gang vor sich. Er wollte Carlas Grab aufsuchen. Er war sich sicher, dass sie angesichts der herrschenden Hitze bereits beerdigt worden war.
Eigentlich hatte Marcello ihr zusammen mit Armando die letzte Ehre erweisen wollen. Aber Armando hatte ihm etwas verlegen gestanden, dass er sich panisch davor fürchtete, in der Abenddämmerung den Armenfriedhof aufzusuchen.
„Warum willst du wegen dieser Schankmagd zum Armenfriedhof? Davon, dass du dahin gehst, wird sie auch nicht wieder lebendig.“
Marcello wollte mit eigenen Augen sehen, wo man Carla begraben hatte, um besser über den sinnlosen Mord hinwegzukommen.
Er machte sich auf den Weg. Müde und verdreckt von der Arbeit, wie er war. Raben flogen über ihm dahin, um ihre Schlafplätze in den Wäldern vor der Stadt aufzusuchen. Der Himmel hatte sich feuerrot gefärbt, die Sonne war bereits untergegangen. Immer wieder sah er das Bild vor sich, wie Carla ihn ungläubig anstarrte und dann entsetzt auf das Blut herabblickte, das ihren Rock innerhalb von Sekunden rot eingefärbt hatte. Marcello machte sich bitterste Vorwürfe. Vielleicht hätte er die grausige Tat doch irgendwie verhindern können! Was, wenn er früher eingeschritten wäre? Wenn er diesem glatzköpfigen Schwein gleich eine Tracht Prügel verabreicht hätte? Vielleicht würde Carla dann noch leben. Es war alles so schnell gegangen. Und ausgerechnet im entscheidenden Moment war er nicht zur Stelle, sondern mit Armando vor der Tür mit diesem alten Säufer beschäftigt gewesen. Er hatte nicht einmal gesehen, wie Carla das Messer in den Bauch gerammt worden war.
Als Marcello die Via Salute erreichte, von der eine Gasse zur Trattoria Rosario abzweigte, überlegte er einen kurzen Augenblick, ob er das Wirtshaus aufsuchen sollte, um sich zu erkundigen, was in der letzten Nacht noch geschehen war. Ob der Mörder der Miliz übergeben worden war? Hatten sich genügend Zeugen gefunden? Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Darum würde er sich später kümmern. Er mochte jetzt nicht den Ort aufsuchen müssen, an dem Carla vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden ermordet worden war. Marcello trottete mit gesenktem Kopf weiter. Es war nicht mehr allzu weit bis zum Armenfriedhof von Mailand. Hier fanden all diejenigen die letzte Ruhe, die ohne Besitz waren. Seine Mutter lag hier ebenfalls irgendwo verscharrt. Auch er würde hier einmal begraben werden.
Als Marcello den Friedhof erreichte, war es schon fast dunkel. Er wusste nicht, wo er nach Carla suchen sollte. Der Geruch von frischer Erde, verwesenden Körpern und Kalk wehte ihm entgegen. Marcello wurde übel. Vor ihm reihte sich eine schier endlose Zahl von grasbewachsenen Hügeln. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Er konnte Armando und seine Furcht vor allem, was mit dem Tod zusammenhing, weiß Gott verstehen. Marcello hatte zwar gewusst, dass in so einer großen Stadt wie Mailand täglich Tote zu beklagen waren. Aber hier mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, war noch einmal etwas anderes. Linkerhand von ihm befanden sich frisch ausgehobene Gräber, die noch leer waren. Zögernd trat er an den Rand der ihm am nächsten gelegenen Grube: So sah das Ende also aus!
Wie sollte er sich hier nur zurechtfinden? Wo waren Carlas sterbliche Überreste? Ein letzter rosavioletter Streifen zeigte sich am Himmel. Ein paar räudige Hunde kamen ihm kläffend entgegen, als er sich einem ärmlichen Bretterverschlag näherte, der an die Friedhofsmauer gezimmert war. Vor der jämmerlichen Hütte stand ein Karren mit einem halb verhungerten Maultier, dessen Rippen man einzeln zählen konnte.
„Hallo, ist hier jemand?“, rief Marcello, doch niemand antwortete.
Nur das Maultier drehte träge seinen Schädel zu ihm und blickte ihn teilnahmslos an. Marcello klopfte laut. Er wusste, irgendwo musste der Totengräber stecken. Gerade wollte er wieder gehen, als die Tür plötzlich aufging und Marcello einem kleinen alten Mann gegenüberstand. Er schwankte und roch nach Schweiß und Alkohol. Seine Hände waren groß wie Teller, und der dunkle Umhang, den er trug, reichte fast bis zum Boden.
„Was willst du? Wer schickt dich?“, nuschelte der Alte, der nur noch einen Zahn im Mund hatte, weshalb Marcello ihn kaum verstehen konnte. Für einen Moment blieb sein Blick an der großen Warze hängen, die das Gesicht des Totengräbers entstellte. Betreten schaute Marcello zu Boden. „Ich such’ ein Grab.“
„Na, dann bist du hier richtig, Junge. Davon gibt’s bei mir mehr als genug.“ Der Alte gluckste vor sich hin.
„Carla heißt die Frau, nach der ich suche. Man hat sie gestern Nacht oder heute Morgen hergebracht“, stammelte Marcello.
„Wer hierher kommt, braucht keinen Namen mehr, der braucht nur noch eine Grube, damit ihn nicht die Hunde fressen. Obwohl – wenn die Hunde kommen, dann hab ich nicht so viel Arbeit.“
Der Totengräber lachte spöttisch. Er drehte sich um und wollte wieder in seine Behausung, als Marcello erneut das Wort ergriff.
„Es ist meine Frau. Vielmehr … sie war’s.“
Er hielt den grobschlächtigen Alten an der Schulter fest und hinderte ihn daran, in seiner Hütte zu verschwinden. Mit einem Mal fuhr ihm der Totengräber fast mitfühlend mit seiner dreckigen Hand über den Arm.
„Ach, mein Junge, manche sterben zu früh und andere muss man totschlagen, damit sie endlich Ruhe geben. Du bist noch jung, auf dich wartet irgendwo ein neues Glück. Du wirst sehen, es dauert gar nicht lange und die Sonne und die Weiber lachen dich wieder an.“ Der Friedhofswärter deutete mit dem Finger seiner rechten Hand in Richtung der Gruben, in die Marcello vorhin hineingeguckt hatte. Neben denen befanden sich auch ein paar frische Gräber, die Erde zu einer leichten Wölbung aufgeschaufelt. „Dahinten, da sind die letzten Gräber, die wir ausgehoben haben, da muss die Grube von deiner Frau dabei sein. Am frühen Morgen haben wir vier tote Weiber in der Stadt abgeholt. Eine davon wird wohl deine gewesen sein. Warte, ich geb’ dir eine Fackel, es ist ja schon stockfinster.“ Er drehte sich um, verschwand in seiner Hütte und kehrte mit einer Pechfackel in der Hand zurück. „Viel Glück, Junge. Wein ruhig ein bisschen, hier seh’n dich nur die Toten, und denen haben die Würmer meist schon die Augen ausgefressen. Glaub einem alten Totengräber: Weinen und Wein, das hilft.“
Der Alte blieb schwankend in seinem Türrahmen stehen, während Marcello mit der Fackel den unebenen Weg zu den frischen Gräbern zurückging. Inzwischen war es tiefschwarze Nacht, der Mond war noch nicht aufgegangen. Auf manchen Gräbern sah Marcello im Schein der Fackel ein einfaches Holzkreuz in die Erde gesteckt, doch meistens waren die Erdhügel schmucklos. Ihn fröstelte bei dem Gedanken, dass unter seinen Füßen unzählige Tote begraben waren. Endlich fand er die Stelle mit den gerade frisch ausgehobenen Gruben. Unschlüssig ging er von Grab zu Grab. Er hob die Fackel hoch, um irgendetwas erkennen zu können. Doch es war sinnlos. Langsam fand er sich damit ab, dass er die richtige Stelle wohl nie finden würde. In einer dieser Gruben lag Carla. Mehr musste er nicht wissen.
Trauer überkam ihn bei dem Gedanken, wie schnell so ein junges Leben zu Ende sein konnte. Vielleicht wären sie ja tatsächlich ein Paar geworden? Carla würde ihm sicher seine kleine Lüge gegenüber dem Totengräber, dass sie seine Frau gewesen war, verzeihen. Was wusste er schon von Carla? Nichts! Er wusste nicht einmal, wo sie herkam.
Plötzlich fiel ihm der Ring in seiner Hosentasche wieder ein. Das blutverklebte Kleinod, das sie ihm in die Hand gedrückt hatte. Er schob ihn über seinen Ringfinger und spürte erstaunt, dass er wie angegossen saß. „Was soll ich bloß mit diesem Ring?“, flüsterte Marcello, dann bückte er sich und steckte die brennende Fackel auf das Grab vor sich. Vielleicht war es ja durch Zufall tatsächlich Carlas Grab. Vorsichtig ging er über den unebenen Weg zurück zum Ausgang des Armenfriedhofs. Als er dort ankam, drehte er sich noch einmal um und sah gerade noch, wie die Fackel verlosch.