Читать книгу Die Schlangenmaske - Annabelle Tilly - Страница 15
10 Von Padua nach Mailand, September 1776
ОглавлениеTiziana Piermarini saß müde im Inneren der engen Kutsche. Die Hochsteckfrisur, die ihr ihre Zofe Marie heute Morgen kunstvoll aufgetürmt hatte, begann sich schon wieder aufzulösen. Die Haarnadeln und die kleinen Perlmuttkämme bohrten sich jedes Mal, wenn sie sich an die modrig riechende Kopfstütze lehnte, so in die empfindliche Kopfhaut, dass sie den Schmerz kaum aushielt.
Marie war durch das monotone Schaukeln der Kutsche eingeschlafen und hatte angefangen, leise vor sich hin zu schnarchen. Tiziana beneidete ihre Zofe um die Gnade, überall schlafen zu können, denn obwohl auch sie völlig erschöpft war, ließen sie die Schmerzen in den Schultern, im Nacken und im Rücken keine Ruhe finden. Die Luft im Inneren der Kutsche war trocken und staubig und ihre Kehle brannte. Sie dachte zum wiederholten Male, dass der frühe September der denkbar ungeeignetste Monat zum Reisen war.
Gelangweilt schaute Tiziana durch das kleine, mit feinem Staub beschmutzte Kutschenfenster. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet und der Kutscher kam auf der ausgetrockneten Landstraße immerhin zügig voran.
Tiziana war für eine Woche zu Gast bei ihrer Tante in Padua gewesen. Ihr Vater hatte nach dem Disput von ihr verlangt, dass sie zu seiner Schwester reisen sollte. Es war das erste Mal, dass sie ohne ihn eine recht weite Kutschfahrt unternehmen sollte.
„Deine Tante Rosabianca freut sich immer über deine Gesellschaft. Ich bin in den nächsten Wochen jeden Tag auf der Baustelle, von früh bis spät. Renitent, wie du zurzeit bist, tut uns etwas Abstand gut. Du kannst den Aufenthalt in Padua nutzen, um darüber nachzudenken, wie deine weitere Zukunft ausschauen soll und wie das Verhalten einer Tochter gegenüber ihrem Vater zu sein hat. Deine Zofe Marie und der Kutscher werden dich begleiten.“
Während sie auf der Hinfahrt eine komfortable Herberge für die Nacht gefunden hatten, war die Unterkunft auf der Rückfahrt nach Mailand katastrophal gewesen. Der Kutscher Paolo hatte eine andere Route wählen müssen, da er vor Wegelagerern gewarnt worden war und kein Risiko hatte eingehen wollen. Mit Schaudern dachte sie an die gestrige Nacht. Zuerst war sie am Abend nur froh gewesen, dem stickigen Inneren der Kutsche nach stundenlanger holpriger Fahrt endlich entfliehen zu können. Es war ihr ein Gräuel gewesen, die verschmutzte Schankstube durchschreiten zu müssen, und sie hatte versucht, sich so gut es ging hinter Marie zu verstecken. Doch durch ihre große, schlanke Gestalt und nicht zuletzt durch ihre auffallende Haarfarbe, die trotz ihres grünen Reisehuts gut sichtbar war, hatten die anderen Gäste die junge Frau schnell entdeckt. Laute Pfiffe und anzügliches Gejohle waren die Reaktion der größtenteils angetrunkenen Männer gewesen.
Ein dicker Widerling mit fettigen, langen Haaren hatte sich ihr einfach in den Weg gestellt. Er hielt einen halb abgenagten Hühnerschenkel in der rechten Hand und Fett triefte ihm über das unrasierte Kinn. „Na, Rotschopf, bist du im Bett genauso feurig wie deine Haare? Wie wär’s denn mit uns beiden heute Nacht, Tesorina?“
Aus einer anderen Ecke der Schankstube war ein zweiter Trunkenbold auf sie zu geschwankt, hatte seinen schwarzbehaarten fleischigen Arm nach ihr ausgestreckt und laut gegrölt: „Hast du auch rote Haare zwischen den Beinen, Bella?“
Lautes Gelächter schallte durch den Raum und Tiziana war schamrot geworden. Wie gelähmt hatte sie dagestanden und nicht gewusst, wie sie sich wehren sollte. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so respektlos und erniedrigend behandelt worden. Nur der drohend erhobenen Faust ihres Kutschers, der die zwei Männer mit „Bastardo“ angebrüllt hatte, und den wütend schimpfenden Wirtsleuten war es zu verdanken, dass die Angetrunkenen verstummten und die kleine Reisegesellschaft unbehelligt zum Treppenflur gelangte. Als Tiziana mit ihrer Zofe die ramponierte Tür ihrer Schlafkammer öffnete, war sie fassungslos zurückgewichen, so ein entsetzlicher Gestank strömte ihr aus dem kleinen Raum entgegen. Es roch sauer nach Erbrochenem, unter dem Fenster schimmelte es und die schmalen Pritschen waren mit Wolldecken voller Stockflecken bedeckt, denen man schon aus der Ferne ansah, dass sie seit Monaten nicht mehr gewaschen worden waren. Ihr Vater hatte sie zwar darauf vorbereitet, dass die Reise sicher nicht luxuriös werden würde. Aber dass es so schlimm kommen könnte! In Tiziana war der Verdacht gekeimt, dass ihr Vater den Kutscher vielleicht extra angewiesen hatte, hier Station zu machen. Giuseppe Piermarini betonte immer, wie verwöhnt, wohlbehütet und beschützt Tiziana war. Vielleicht wollte er ihr so zeigen, dass sie bei ihm in einem goldenen Käfig lebte und sich für diesen Luxus seinen Wünschen anzupassen hatte.
„Der Kutscher wird bestimmt ein gutes Abendessen für uns besorgen. Geduldet Euch noch ein wenig, gleich geht es Euch besser, Signorina Tiziana“, hatte Marie ihre aufgebrachte Herrin zu beruhigen versucht. „Der Fuhrmann wird heute Nacht vor der Tür schlafen. Niemand wird Euch etwas tun.“
Tiziana beschloss, sich keinerlei Schwäche anmerken zu lassen. Kurze Zeit später kam die Frau des Wirts mit einem Tablett beladen mit schalem Wein, altem Brot und einem ranzigen Ziegenkäse sowie blauen Trauben herein. Sie entschuldigte sich noch einmal für das schlechte Benehmen der Schankstubengäste und versicherte der jungen Herrin, dass sie absolut sicher in ihrem Haus sei.
Nachdem die beiden gegessen und getrunken und Marie ihr beim Entkleiden geholfen hatte, war sie in ihr weißes Batistnachthemd geschlüpft. Wie sollte sie nur in diesem Bett schlafen? Gott sei Dank hatte die Zofe wenigstens ihr eigenes, sauberes Linnen mitgebracht. Sie überwand ihren ganzen Widerwillen und ließ sich auf das schmale Bett sinken. Bevor Tiziana wenig später in einen erschöpften, traumlosen Schlaf gefallen war, hatte sie noch daran gedacht, dass ihr Vater zwar dominant und tyrannisch war, aber sie musste ihm zugute halten, dass er nie die Contenance verlor. Das Erlebnis in der Schankstube hatte ihr deutlich vor Augen geführt, wie geringschätzig man unter Umständen als junge Frau ohne männliche Begleitung von Männern behandelt wurde.
Der heutige Reisetag strengte sie erneut sehr an. Der frühe Morgen war sonnig und die Luft klar gewesen. Die bewaldeten Hügel des Apennins erfreuten Tiziana. Während die monotone Landschaft an ihr vorbeizog, hing sie wieder ihren Gedanken nach. Lächelnd dachte sie an die vielen Gespräche, die sie in der letzten Woche mit ihrer Tante geführt hatte. Sie hatte ihrer Tante Rosabianca während ihres Aufenthalts ihr Herz ausgeschüttet.
„Ich verstehe, dass du dich den ganzen Tag langweilst, Tiziana. Für eine junge Frau mit neunzehn Jahren und immer noch unverheiratet ist es schwierig, neue Bekanntschaften in einer fremden Stadt zu knüpfen. Noch dazu, wenn man einen Vater hat wie deinen. Für Giuseppe steht seine Arbeit immer an erster Stelle. Selbstverständlich hat er dafür gesorgt, dass du von den besten Privatlehrern in meinem Haus unterrichtet worden bist. Aber jetzt, wo er dich zu sich nach Mailand geholt hat, sieht er plötzlich, was es bedeutet, eine erwachsene Tochter zu haben.“
„Natürlich bekommen wir ab und zu Besuch. Papa arbeitet ja schon seit Jahren immer wieder in Mailand. Er kennt dort den ganzen Hochadel, selbst bei Erzherzog Ferdinand von Habsburg geht er ein und aus, da er dessen Residenz umbaut. Papa verbringt die meiste Zeit auf der Baustelle oder in seinem Studierzimmer. Abends schleppt er mich auf langweilige Bälle oder Soireen mit. Dabei beobachtet er mit Argusaugen, welcher Mann mich anschaut und welcher nicht. Wir hatten einen großen Streit. Sein neuester Heiratskandidat für mich ist der Conte Nicola Pocci.“
„Was, Nicola Pocci? Ist der nicht in meinem Alter? Natürlich wäre eine Vermählung mit einem Aristokraten ein enormer Aufstieg für unsere ganze Familie. Da verstehe ich meinen Bruder schon.“
„Der Conte ist einfach grässlich. Papa hat mich neulich gezwungen, mit ihm auf die Falkenjagd zu gehen. Tante, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was für eine Qual der Ausflug für mich war. Vor meinen Augen hat Nicola Pocci mit bloßer Hand einem kleinen Hasen das Genick gebrochen und ihn seinem Falken zur Belohnung gegeben. Noch nie habe ich einen Mann mit so kalten Augen gesehen. So jemanden kann ich in meiner Nähe nicht ertragen. Weil ich mich so echauffiert habe, erlaubt mir Papa nun gar nicht mehr, aus dem Haus zu gehen. Den lieben langen Tag sitze ich nur herum und habe nichts zu tun. Ich würde mich so gerne irgendwie nützlich machen! Ich möchte meinem Leben endlich einen Sinn geben! Das ist doch nicht zu viel verlangt! Papa erlaubt mir nicht einmal, die Stadt anzuschauen. Mit meiner Zofe schickt er mich sonntags in die Messe. Kirchen, das ist das Einzige, was ich bisher von Mailand gesehen habe. Zu dem Wandgemälde von Leonardo da Vinci im Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie hat er mich im vergangenen Monat gefahren. Stundenlang hat er sich über die Darstellung des letzten Abendmahls ausgelassen. Den riesigen Duomo Santa Maria Nascente kenne ich inzwischen in- und auswendig. Ich weiß über alle fünf Kirchenschiffe bestens Bescheid. Sämtliche Gesichter der über zweitausenddreihundert Statuen, die die Außenfassade des Doms zieren, sind mir bereits vertraut wie alte Freunde. Ich kann Euch auswendig herunterleiern, dass vierzigtausend Gläubige in die altehrwürdige gotische Kirche passen. Wollt Ihr vielleicht noch wissen, wie lang, breit und hoch der Dom ist? Ich kann es Euch gerne sagen!“ Wütend war Tiziana von der Chaiselongue aufgesprungen und im Salon auf und ab gegangen.
„Wenn ich dich so zornig sehe, denke ich, dein Vater steht vor mir. Ihr streitet euch so oft, weil ihr euch vom Temperament her so ähnlich seid. Kind, Kind, das, was du mir erzählst, klingt ja noch schlimmer, als ich ohnehin schon befürchtet hatte.“ Plötzlich war ihre Tante auch vom Sofa aufgesprungen und hatte begeistert in die Hände geklatscht. „Ich habe eine wunderbare Idee! Darauf hätte ich schon viel früher kommen können, aber du bist ja erst seit kurzer Zeit in Mailand. Wie konnte ich nur vergessen, dass eine meiner besten Freundinnen dort lebt? Und sie ist dazu noch eine echte Berühmtheit. Du hast sicher auch schon ihren Namen gehört: Sie heißt Maria Gaetana Agnesi. Ganz Mailand kennt sie!“
Tiziana schaute ihre Tante verlegen an. „Ich muss gestehen, ich habe noch nie von ihr gehört.“
„Na, dann wird’s aber Zeit. Maria Gaetana ist eine der beliebtesten Frauen dort. Schon als Kind hat sie Aufsehen erregt, weil sie mühelos die schwierigsten mathematischen Aufgaben zu lösen vermochte. Außerdem parlierte sie mit den Gästen, die sie im Hause ihrer Eltern besuchten, in sieben Fremdsprachen, darunter Deutsch, Latein, Hebräisch und sogar Russisch. Die Agnesis sind eine vielköpfige, äußerst interessante Familie, sage ich dir! Ihr Vater hat im Laufe seines Lebens nicht weniger als einundzwanzig Kinder gezeugt.“
„Mein Gott“, entfuhr es Tiziana, „aber doch nicht etwa mit einer einzigen Ehefrau, oder etwa doch?“
„Nein, mein Kind. Er hat dreimal geheiratet. Doch zurück zu Maria Gaetana. Ihr Vater besuchte mit meiner Freundin alle großen Höfe in Europa. Dort wurde sie als Wunderkind präsentiert. Sogar unsere Kaiserin Maria Theresia war so beeindruckt von ihren Rechenkünsten, dass sie sie mit einem unglaublich kostbaren Rubinring aus ihrer Schatzkammer beschenkt hat. Im Nachhinein glaube ich, Maria Gaetana war zu der Zeit sehr unglücklich. Sie durfte nie richtig Kind sein. Aber die Mathematik war immer ihre große Liebe. In späteren Jahren hat man sie sogar zur Professorin ernannt. Als ihr Vater verstarb, hat sie von einem Tag auf den anderen ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen. Ich glaube, sie war zu dem Zeitpunkt Mitte dreißig. Maria Gaetana hat ihr Leben seitdem ganz in den Dienst der Armen und Bedürftigen gestellt. Sie war schon immer tief religiös und nun frei, das zu tun, was sie wollte. Sie zog kurzerhand aus dem elterlichen Palazzo aus und kaufte ein großes Anwesen mitten in Mailand, das fortan für Kranke, Alte und Waisen offen stand.“
Tiziana hatte ihrer Tante die ganze Zeit wie gebannt zugehört.
„Hättest du nicht Lust, ihr zur Hand zu gehen? Du müsstest nicht mehr zu Hause herumsitzen und könntest sogar etwas Gutes tun. Maria Gaetana kann jede Hilfe brauchen. Seit über zwanzig Jahren leitet sie jetzt schon die Casa Agnesi und nie reicht das Geld. Es bricht ihr jedes Mal fast das Herz, wenn sie ein Waisenkind oder alte, kranke Menschen nicht aufnehmen kann, weil zu wenig Platz oder nicht genügend Personal da ist. Du kannst sicher Waisenkindern Lesen und Schreiben beibringen oder dich um die Pflege der Alten, Siechen und Kranken kümmern. Ich weiß, dass Maria Gaetana um jeden Menschen froh ist, der sie unterstützt.“
Tiziana war ihrer Tante vor Freude um den Hals gefallen. „Wunderbar! Genau so eine Tätigkeit hab ich mir immer sehnlichst gewünscht. Dann würde ich auch endlich nicht mehr den ganzen Tag unter der Kuratel meines Vaters stehen. Ich muss ihn nur noch dazu bringen, dass er es mir erlaubt. Aber wenn der Vorschlag von Euch kommt, kann er ihn kaum ablehnen. Und gegen eine karitative Tätigkeit bei einer Nonne kann wohl kein Vater der Welt etwas sagen!“
Rosabianca hatte noch am gleichen Abend ein Empfehlungsschreiben an ihre Freundin geschrieben, das jetzt sicher verwahrt im Reisekoffer unter Tizianas Sitz ruhte.
Tiziana war Feuer und Flamme. Jetzt würde sie endlich eine Aufgabe haben. Ihr Magen knurrte schon wieder. Wie weit mochte es wohl noch bis Mailand sein? Lange konnte es nicht mehr dauern. Sie meinte am Horizont schon die ersten Türme der großen Stadt erkennen zu können.