Читать книгу Die Schlangenmaske - Annabelle Tilly - Страница 12
7 Mailand, Vicolo Giovanni, August 1776
ОглавлениеAm Sonntag ruhte die Arbeit.
Marcello genoss es, nicht in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus gehen zu müssen. Gemächlich begann er seinen Morgen. War noch vor wenigen Tagen nichts zu essen da gewesen, so baumelte jetzt ein feines Stück Speck an einem Nagel über seiner Pritsche.
Er nahm sein Messer aus der Tasche und prüfte am Daumen, ob es noch scharf war. Marcello schnitt sich eine dicke Scheibe ab und brach ein großes Stück Brot vom Laib. So schnell konnte sich das Leben ändern! Genüsslich kaute er Speck und Brot und gönnte sich einen Schluck Wein dazu. Heute konnte er sich Zeit lassen. Fröhlich stimmte er die verschiedenen Arien an, die er im Teatro Regio Ducale gehört hatte. Es gelang ihm immer besser. Manchmal wunderte sich Marcello selber darüber, wie leicht es ihm fiel, Melodien, die er nur ein einziges Mal gehört hatte, nachzusingen. Es bereitete ihm größtes Vergnügen, die Töne so lange zu modellieren, bis sie so klangen wie in seinem Gedächtnis. Er fühlte, wie seine Stimme einen rhythmischen Fluss erlangte und ihn davontrug. Von allen Sängern und Sängerinnen der Oper hatte ihn am meisten eine kleine, dicke, schon etwas ältere Frau beeindruckt, die in Marcellos Ohren mit unvorstellbarer Perfektion ihre Arien gesungen hatte. Ihre Stimme ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Marcello hatte sich erst am frühen Abend mit Armando im Wirtshaus verabredet. Als sich die beiden Freunde in der Abenddämmerung trafen, war es immer noch angenehm warm.
„Du kommst allein, Armando? Wollte dich Violetta nicht begleiten?“
„Frag mich bloß nicht nach ihr! Bei uns kracht’s zurzeit nur noch. Seitdem ich Arbeit auf der Baustelle habe, bin ich in ihren Augen ein Heiratskandidat. Gott verschone mich! Aber solcherlei Sorgen sind dir ja fremd! Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, wann du das letzte Mal mit einer Frau im Arm dahergekommen bist. Du bist zu wählerisch, Marcello! Alle Weiber rennen hinter dir her, und keine passt dir! Die Schankmagd vom Rosario hat dir doch gefallen?! Komm, wir kehren dort ein und schauen mal nach, ob sie wieder da ist.“
„Ich geh nur mit, wenn du deine peinlichen Versuche, mich zu verkuppeln, unterlässt!“
„Versprochen. Wer weiß, was der Abend bringt? Vielleicht gehen wir zu zweit hin und kommen zu viert wieder raus. Los geht’s!“
Verschmitzt lächelnd stieß Armando seinen Ellenbogen in Marcellos Rippen und gemeinsam betraten sie den Schankraum der Trattoria.
Heute war hier viel mehr los als beim letzten Mal. Mit Mühe fanden sie einen Sitzplatz. Neben ihnen auf der schmalen Bank saß ein schnarchender alter Kerl, dessen Kopf auf den Tisch gesunken war.
Sie mussten sich fast anschreien, um sich verständigen zu können, so laut war es.
Die Wirtin kam zu ihnen und brachte einen Krug Wein.
„Wo ist denn Carla?“, wollte Armando von ihr wissen.
„Die muss es ja ganz schön bunt treiben! Du bist nicht der Erste, der heut nach dem Flittchen fragt. Sie ist da hinten. Die wird dir schon noch über den Weg laufen. Wollt ihr etwas essen?“ Mürrisch wischte die Wirtsfrau mit einem Lappen über den Tisch.
„Nein, heute nicht“, antworteten Marcello und Armando wie aus einem Mund. Plötzlich hörten sie, wie eine lallende Stimme brüllte: „Carla, setz dich auf meinen Schoß und wärm mich und mein bestes Stück!“
Marcello drehte sich um und sah, dass ein feister Glatzkopf gerade versuchte, Carla an ihren Röcken festzuhalten.
Als sie sich ihm entwand, beugte sich der Besoffene blitzschnell vor und riss ihr mit der Hand das Mieder runter.
Marcello sprang auf und wollte Carla beistehen, als diese dem Kerl selbst eine schallende Ohrfeige verpasste. Schadenfrohes Gelächter dröhnte durch den Schankraum.
„Die hat’s dir gegeben, Antonio, bei der machst du heute keinen Stich mehr“, feixte einer der Gäste.
Antonio lallte: „Die Hure wird mich noch kennenlernen, darauf kannst du dich verlassen!“
Aufgebracht ordnete Carla ihre Kleidung und eilte in die Richtung, wo Marcello und Armando saßen. Als sie Marcello erblickte, glitt ein Lächeln über ihr angespanntes Gesicht. „Heut ist hier die Hölle los, wie jeden Sonntag. Wo habt ihr die ganze Woche gesteckt?“
Armando sah Carla herausfordernd an. „Nicht nur du arbeitest! Auch wir schuften von früh bis spät. Heute ist unser erster freier Tag, und schon sind wir hier, bei dir, mio tesoro.“
„Brauchst du unsere Hilfe, Carla? Ich habe gesehen, wie sich der Glatzkopf aufgeführt hat“, bot Marcello an.
„Das ist aber nett von dir, dass du mir helfen willst! Du kennst mich doch gar nicht!“ Ein kleines Lächeln glitt über ihre Lippen. „Keine Sorge, mit dem Besoffenen werd ich schon fertig. Der Kerl hat mir noch gefehlt! Gerade ist alles etwas viel für mich. Ich habe heute Morgen etwas gesehen, was mich sehr beunruhigt hat. Deshalb bin ich vielleicht etwas fahrig.“
„Was denn?“
„Das kann ich dir nicht sagen, Marcello. Ich darf nicht so lange mit euch reden, sonst schimpft der Wirt!“ Carla rannte mit einem Stapel schmutzigen Geschirrs in die Küche.
Marcello und Armando tranken ihren Wein. Nach und nach leerte sich die Trattoria.
Der alte Mann neben ihnen schnarchte immer noch.
Der Wirt rief hinter seinem Tresen zu Marcello und Armando rüber: „Tragt mir den Alten nach draußen, dann geb ich euch einen Wein aus. Schmeißt ihn in die Gasse, da kann er seinen Rausch ausschlafen.“
Carla kam zu ihnen, ergriff die Jacke, die der Zecher neben sich liegen hatte, und drückte sie Marcello in die Hand.
„Ich bin gleich fertig, dann hab ich Zeit für euch!“
„Wir bringen solange den Alten raus. Du vorne, ich hinten!“
Sie packten den Säufer unter den Armen und an seinen Beinen und hoben ihn hoch.
„Der ist ja ganz schön schwer. Lauf zu, Armando!“
Gemeinsam trugen sie den Kerl vor die Tür und legten ihn ein paar Meter weiter auf dem Pflaster ab.
„Wir können ihn doch nicht hier mitten auf dem Weg liegen lassen, Armando. Der muss näher an die Mauer ran, sonst stolpern die anderen Besoffenen über ihn.“
Lachend bückten sich die beiden Freunde erneut und hoben den Säufer wieder auf, um ihn dichter an die Mauer zu verfrachten.
In diesem Augenblick hörten sie aus der Schänke einen gellenden Schrei.
„Da ist etwas passiert!“, brüllte Marcello.
Die Freunde ließen den Kerl unsanft auf den Boden fallen.
Im Schankraum herrschte ein einziges Durcheinander.
Mehrere Männer stürzten sich gerade auf den Glatzkopf und rissen ihn zu Boden.
Ein langes Messer mit blutiger Klinge fiel auf die Steinplatten.
„Er hat ihr die Klinge in den Leib gestoßen!“
„Sie blutet wie eine angestochene Sau!“
„Heb doch endlich einer das Messer auf, bevor er noch mal zustechen kann!“
Marcello sah Carla, die sich ihre Hand ungläubig an den Bauch presste. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Carla strauchelte, sie machte zwei Schritte vorwärts auf Marcello zu. Krampfhaft versuchte sie, sich an der Tischplatte festzuhalten.
„Was ist passiert?“, stammelte Marcello und stürzte zu ihr. In diesem Moment beugte sich Carla vor und zog ihren Ring vom Finger.
Entsetzt schaute Marcello auf die blutverschmierte Schlange, die die Oberfläche zierte.
„Nimm du den Ring!“, flüsterte sie. Dann brach sie zusammen. Ihr Kopf schlug mit einem dumpfen Knall auf der Tischkante auf.
Marcello steckte hastig den Ring in seine Hosentasche, nahm Carla in seine Arme und ließ sich mit ihr verzweifelt zu Boden sinken. „Carla! “, flüsterte er. „Carla!“ Entsetzt schaute er hoch. „Tut doch was, bringt mir Tücher. Das ganze Blut, sie verblutet!“
In dem Moment begann der Messerstecher wild um sich zu schlagen und zu schreien. Er konnte kaum gebändigt werden.
„Stopft dem Kerl endlich sein Maul“, rief Armando wütend und trat ihm in den Magen, ehe er ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht zur Ruhe brachte.
Der Wirt kam mit ein paar verdreckten Tüchern hinterm Tresen hervor und drückte sie unbeholfen Marcello in die Hand. Carlas Gesicht war kalkweiß. „Marcello!“, flüstere sie kaum hörbar. Blut floss aus ihrem Mundwinkel und tropfte über ihr Kinn.
Marcello konnte ihren Pulsschlag kaum noch spüren. Als ihr Kopf nach hinten sackte, wusste er, dass sie tot war.
„Marcello“, flehte ihn Armando an, „Marcello, lass uns von hier verschwinden, bevor die Miliz kommt. Ein paar Männer sind schon unterwegs, um sie zu holen. Du kannst nichts mehr für das Mädchen tun! Niemandem ist geholfen, wenn wir hier noch länger bleiben. Die nehmen uns mit und sperren uns in einer Zelle ein, bis der Mörder gestanden hat. Das kann ewig dauern, und zusätzlich zu den Scherereien mit der Miliz verlieren wir womöglich gleich wieder unsere Anstellung. Komm, los jetzt!“
„Aber wir können sie doch nicht einfach hier auf dem Boden liegen lassen“, brach es aus Marcello hervor. „Lass sie uns wenigstens auf einen Tisch betten.“
Vorsichtig hoben Marcello und Armando den leblosen Körper der jungen Frau vom Boden hoch und legten ihn auf einen der Tische. Es war für einen Moment totenstill im Schankraum der Trattoria. Einige der Gäste bekreuzigten sich ehrfurchtsvoll, andere begannen leise miteinander zu sprechen.
Der Messerstecher war von dem Faustschlag, den Armando ihm verpasst hatte, noch immer bewusstlos. Ein Gemisch aus Speichel und Blut floss ihm aus dem offenen Mund. Zwei Kostgänger machten sich gerade daran, mit einem Strick seine Hände zusammenzubinden, um den gemeinen Mörder der Miliz übergeben zu können.
Die Wirtin eilte an den Tisch, auf den Marcello und Armando Carla ablegt hatten, und räumte Gläser, Teller und die Weinkrüge, die noch herumstanden, beiseite. Sie stellte zwei Kerzen, die auf dem Tisch waren, rechts und links von Carlas Kopf auf.
„Wie schön sie aussieht und wie bleich!“ Marcello redete mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden. Er beugte sich über Carlas in Kerzenschein gehülltes Gesicht und schob vorsichtig ein paar blutverschmierte Locken aus ihrer kalten, feuchten Stirn.
„Los, komm zu dir! Jetzt ist’s genug, wir müssen hier raus!“, drängte Armando.
„Die Miliz!“, rief in dem Moment einer der Gäste aufgeregt von der Tür.
„Wer hier nicht gesehen werden will, sollte sofort abhauen! Wer bleibt, ist selber schuld.“
„Da hörst du’s, Marcello!“ Ungeduldig rüttelte Armando an Marcellos Schulter. Dann packte er ihn fest am Arm und stürmte mit ihm in die finstere Nacht hinaus.