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1 Mailand, Krypta San Fedele, April 1776

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Der Eingang zur Krypta befand sich, hinter einem Mauervorsprung verborgen, gleich neben dem Portal der Kirche San Fedele. Ein großer, alter Holunderbusch streckte seine Zweige so tief herab, dass einem Ortsunkundigen die Treppenstufen, die zum Grabgewölbe hinunterführten, gar nicht aufgefallen wären. Ohne das schwache Licht des Mondes hätte man nicht gesehen, wie die schmale Tür ein ums andere Mal geöffnet wurde. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Immer noch tauchten plötzlich, wie aus dem Nichts, die Silhouetten von dunklen Gestalten auf, die sich verstohlen umblickten, bevor sie die ausgetretenen Stufen hinunterstiegen, zweimal kurz, dreimal lang an die Tür klopften und dahinter verschwanden.

Jedes Mal, wenn die Pforte geöffnet wurde, fiel ein schwacher Lichtstrahl auf den Platz vor der Kirche.

Jäh wurde die Stille der Nacht von den Geräuschen einer heranrollenden Kutsche unterbrochen. Eine Equipage hielt direkt vor dem Portal. Die große, korpulente Gestalt, die der Kutsche entstieg, war in einen bodenlangen dunklen Umhang gehüllt und stützte sich auf einen Stock. Man konnte das laute Schnalzen des Kutschers hören, der die zwei Pferde wieder antrieb und mit dem Wagen in der Dunkelheit der Nacht verschwand.

Auf dem Kirchenvorplatz blieb der Mann allein zurück. Der späte Besucher trug einen ausladenden Hut mit einer breiten Krempe und eine goldene Maske, die sein Gesicht verbarg. Auf seinen Stock gestützt schritt er zielsicher zum verborgenen Eingang des Grabgewölbes. Noch ehe der Maskierte die alte eisenbeschlagene Holztür erreicht hatte, wurde sie geöffnet. Ohne Gruß raunte er dem Wächter der Pforte zu: „Können wir beginnen?“

„Bis auf drei oder vier Brüder sind alle versammelt und erwarten Euch.“

„Gut. Verschließe die Tür. Niemandem wird mehr Einlass gewährt.“

Das Kellergewölbe, in dem gleich eine geheime Zeremonie stattfinden sollte, war mit wenigen Fackeln, deren Licht unruhig flackerte, nur schwach beleuchtet. Die Anwesenden standen zu zweit oder zu dritt beisammen und sprachen leise, fast flüsternd miteinander. Alle hatten ihre Gesichter hinter Masken verborgen.

Im hinteren Teil des Gewölbes stand ein Tisch, der mit sieben Kerzen und einem Kreuz geschmückt war. Man hätte ihn für einen Altar halten können, wenn nicht auf der Tischplatte ein Drahtkäfig gestanden hätte, in dem eine weiße Ratte an einem Stück Speck nagte. Außerdem befand sich auf dem Tisch noch ein Sack aus schwarzem Samt, der mit einer roten Kordel zugebunden war.

Es roch modrig in der Krypta. Einige Fledermäuse, die in der Finsternis des Gewölbes sonst eine ruhige und sichere Wohnstatt fanden, wurden durch die Fackeln und den Kerzenschein aufgeschreckt und flogen immer wieder aufgeregt durch den Raum.

„Es ist Zeit, lasst uns beginnen“, rief eine tiefe Stimme. Ein kleiner, asketischer Jesuitenpater entzündete fein duftenden Weihrauch und schwenkte ihn in einem silbernen Gefäß, das an zwei dünnen, feingliedrigen Ketten befestigt war. Schnell war der Modergeruch, den das Gemäuer verströmte, verflogen. Die Gespräche verstummten allmählich. Nur die Ratte im Käfig begann durch den ungewohnten Rauch unruhig hin und her zu rennen und ängstlich zu quieken. Der Pater hielt ein kurzes Gebet in lateinischer Sprache. Dann löschte er die wenigen Fackeln, sodass nur noch die Kerzen auf dem Tisch für etwas Licht sorgten. Eine feierliche Stimmung breitete sich aus.

Im Kerzenschein sah man plötzlich den Mann mit der goldenen Maske hinter den Tisch treten. „Danke, Padre Rossi, danke für Euer Gebet. Möge Gottes Segen auf unserem Vorhaben liegen. Brüder, wir leben in harten Zeiten“, sagte er mit tiefer Stimme, legte seine behandschuhte Hand sanft auf den Rattenkäfig und fuhr fort: „Jeder von uns kann an seinem Platz dafür sorgen, dass wir uns vom Joch der Unterdrückung befreien. Mehr als ein halbes Jahrhundert schon sind wir der Willkür der Habsburger in Wien ausgeliefert. Wir wollen endlich unsere Freiheit!“

Jubel brach unter den Mitgliedern des Zirkels aus. Erst ein Räuspern ließ die Anwesenden wieder verstummen.

„Seht diese Ratte, sie wird immer fetter.“ Unvermittelt schlug der Maskierte mit seinem Stock auf den Käfig. „Noch wiegt sie sich in Sicherheit, die Ratte. Sie glaubt, ihr könnte nichts passieren. Ihr wisst alle, wer die Ratte ist?“ Mit Genugtuung sah er durch die Augenschlitze seiner Maske, wie die versammelten Logenbrüder die rechte Hand zur Faust ballten und riefen: „Maria Theresia, die Kaiserin!“ Das Echo hallte von den Wänden zurück.

Der Anführer nickte bestätigend. „Ja, keine andere als die fette Kaiserin aus Wien. Ihre Söhne und Töchter haben auf ihr Geheiß an jedem Hof in Europa den Speck entdeckt und lassen ihn sich schmecken. Ganz Europa hat sich Maria Theresia bald einverleibt. Wenn ihr keiner Einhalt gebietet, wird der unmäßige Hunger der Kaiserin nie gestillt werden.“ Wütend schlug er erneut mit seinem Stock auf den Käfig. Verschreckt richtete sich die eingesperrte Ratte auf, ihre Barthaare zitterten. „Doch die Zeiten werden sich ändern. Auch wir wollen ein Stück vom Kuchen!“

Die Mitglieder des geheimen Bundes waren plötzlich wie entfesselt. Laut applaudierend traten sie näher und näher an den maskierten Redner heran, während die aufgeschreckte Ratte vergeblich versuchte, Schutz in der hintersten Ecke ihres Gefängnisses zu finden.

„Ja. Wir lassen uns nicht länger mit Brosamen abspeisen.“

„Nieder mit Maria Theresia, nieder mit der Kaiserin“, hallte es durch das feuchte Gemäuer der Krypta.

„Seid still und seht, was ich euch zeigen werde.“ Der Mann mit der goldenen Maske hatte seinen Stock abgelegt und die rote Kordel gelöst, mit der der Sack aus schwarzem Samt verschlossen war. Er öffnete den Riegel des Drahtkäfigs und zog die weiße Ratte, die sich heftig wehrte, an ihrem Schwanz heraus. „Seht ihr, wie die Ratte in meinen Händen zappelt?“

Lachen war zu hören, während das verstörte Tier sich zu befreien versuchte, aber es hing hilflos mit seinem Kopfüber dem geöffneten Samtsack.

Plötzlich ließ der Maskierte die Ratte fallen und diese verschwand im Schlund des Beutels. Blitzschnell verschloss er die Öffnung mit der roten Kordel.

Die Augen aller Anwesenden waren auf den Sack gerichtet, der im Kerzenlicht in der Mitte des Tisches lag. Der samtene Beutel begann sich kaum merklich zu bewegen. Vielleicht suchte die Ratte nach einem Ausgang aus ihrem Gefängnis? Plötzlich hörte man ein lautes, gellendes Quieken. Den Zuschauern stockte der Atem. Die Ratte stieß einen nicht enden wollenden Pfiff voller Todesangst aus. Dann war es still. Man konnte nur noch das Knacken kleiner, dünner Knöchelchen hören. Der Inhalt des samtenen Beutels bewegte sich noch immer.

Nach einer Pause begann der Mann mit der goldenen Maske wieder zu sprechen. „Das ist es, was ich euch zeigen wollte!“ Triumphierend öffnete der Redner geschickt die rote Kordel und schüttelte den Inhalt behutsam auf den Tisch. Ungläubiges Staunen ergriff die Runde, denn statt der Ratte wand sich nun eine große goldgrüne Viper gemächlich im Kerzenschein.

„Die Schlange hat die Ratte gefressen!“, schrie einer der Anwesenden mit sich überschlagender Stimme in die Stille hinein. Majestätisch hob die Viper ihren schmalen, schlanken Schädel. Die Zuschauer sahen ihre gespaltene Zunge. Die gelben Augen der Schlange, die den Sichtschlitzen des Maskierten verblüffend ähnelten, fixierten hypnotisch das Publikum.

„So ist es, Brüder der Schlange, so ist es. Die Viper verschlingt ihre Opfer! Unsere Feinde sollten sich besser in Acht nehmen!“

Das Tier, dessen Schuppen im flackernden Licht der Kerzen schimmerten, rollte sich träge ein. Fast sah es aus, als hätte es keinen Anfang und kein Ende.

„Der Schlangenring, den jeder von uns trägt, verleiht uns die nötige Kraft für den Kampf. Fasst euren Ring an und lasst uns unseren Bund erneuern.“

Alle im Raum berührten den Ring, das Symbol ihrer Gemeinschaft.

„Wir geloben, mit Gottes Hilfe, unter Einsatz unseres Lebens, alle Feinde einer freien Lombardei zu vernichten. Es lebe das freie Mailand!“

„Haltet euch bereit! Und vergesst nicht: Wer unseren Bund verrät, ist des Todes.“

So heimlich wie die Mitglieder des Schlangenbundes zusammengekommen waren, so unauffällig verließen sie nun nach und nach den Versammlungsort. Nur der Maskierte und ein junger Mann blieben zurück.

Gianfranco Colarie war immer noch wie gebannt von der Vorführung des kaltblütigen Rattentodes. Er stand regungslos da. Die Haut an seinen Armen und seinem Hals war ganz und gar mit Gänsehaut überzogen. Er hatte mit jeder einzelnen Faser seines Körpers den Todeskampf der weißen Ratte miterlebt. Das Nagetier hatte keine Chance gehabt. Ihn grauste! Er zwang sich, wieder langsam und ruhig zu atmen, und trat an den Tisch, auf dem die goldgrüne Schlange eingerollt lag. Er spürte, wie ihn die zwei dunklen Augen hinter der goldenen Maske prüfend fixierten. Angstschweiß perlte auf seiner hohen Stirn.

„Gianfranco, die Schlange muss zurück in ihren Sack.“

„Ja, Meister.“

„Wo ist deine Schwester Carla? Sie hat gefehlt!“

„Meister, wenn Carla hätte kommen können, wäre sie da gewesen“, antwortete Gianfranco mit leiser Stimme. Vorsichtig ergriff er die Schlange hinter dem Kopf und hielt das sich windende Tier fest. Gleichzeitig öffnete er den schwarzen Samtbeutel und dirigierte die wütend zischende Viper in ihre Behausung. Gianfranco schauderte erneut, als der Schlangenkörper durch seine Hände glitt und er die Stelle spürte, wo die soeben verschlungene Ratte noch zuckte.

Die Schlangenmaske

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