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13 Mailand, Palazzo Reale, Oktober 1776

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In aller Herrgottsfrühe herrschte im Palazzo Reale des Erzherzogs Ferdinand von Habsburg bereits emsige Betriebsamkeit. Während der Statthalter Mailands und seine Gemahlin noch selig schliefen, war ihre Dienerschaft schon längst auf den Beinen. Das ganze Gesinde achtete darauf, so leise wie möglich zu sein, um ja nicht die Herrschaften und ihre Kinder zu wecken.

Gianfranco Colarie befand sich in einem der privaten Gemächer des Erzherzogs, in dem dessen umfangreiche Garderobe aufbewahrt, gepflegt und instandgehalten wurde. Behutsam und leise schloss er die Ofentür. Das Feuer knisterte. Er prüfte mit seiner Spucke die Hitze der Eisenplatte des kleinen Ofens. Sein Speichel bildete einen runden Tropfen und tanzte zischend, wie ein Kreisel, auf der heißen Platte, bis er kleiner und kleiner werdend ganz verdunstet war. Gianfranco stellte das gusseiserne Bügeleisen auf die Ofenplatte und wartete, bis sich das Metall erhitzt hatte. Während er gedankenverloren dem Bügeleisen zusah, bis es eine glutrote Farbe annahm, stiegen ihm erneut Tränen in die Augen. Sein Gesicht, das ohnehin schmal und lang war, sah heute Morgen noch magerer aus. Die Wangenknochen traten spitz hervor und seine sonst so wachen Augen hatten allen Glanz verloren. Carla war tot. Er konnte und wollte es nicht glauben. Tränen begannen ihm die hohlen Wangen hinunterzulaufen und er schluchzte auf. Er war zutiefst beunruhigt gewesen: Zweimal war seine Zwillingsschwester nicht zur verabredeten Zeit erschienen. Beim ersten Mal erklärte er sich ihr Fernbleiben noch mit der vielen Arbeit, die sie in der Trattoria Rosario verrichten musste. Doch als Carla auch zum zweiten vereinbarten Treffen nicht erschien, hatten ihn Unruhe und ernsthafte Sorge ergriffen.

Gianfranco wollte selbst in die Kaschemme gehen und nachschauen, warum Carla nicht kam, doch dann war ihm Silvio der Gaukler auf den Stufen vor der Kirche San Fedele begegnet. Gianfranco hatte ihm von seiner Angst um seine Schwester erzählt. Der Gaukler bot sich daraufhin an, das Rosario aufzusuchen und nach Carla zu fragen. „Gianfranco“, hatte er gesagt, „du als Kammerdiener des Erzherzogs kannst dich nicht an so einem ärmlichen und heruntergekommenen Ort zeigen. Wenn ich dagegen hingehe und nach deiner Schwester sehe, fällt es gar nicht auf.“

Gianfranco nahm einen der ledernen Reitstiefel seines Herrn zur Hand. Er rührte die Wichse aus Talg, Öl und Ruß an und fettete das Leder vom Absatz bis zum Schaft ein. Er ließ die Bürste über das Leder fliegen. Jede Sekunde war er mit seinen Gedanken bei Carla. Je länger er den Stiefel bearbeitete, desto mehr Wut mischte sich in seine Trauer. Wie hatte er nur so naiv sein können zu glauben, dass Carla in der Trattoria die sicherste Tarnung von allen Separatisten hatte? Gianfranco war gar nicht auf die Idee gekommen, dass für seine Schwester der Umgang mit Betrunkenen zu einer Gefahr werden könnte.

Wie besessen ließ er die Bürste über den Stiefel fliegen. Der unermessliche Hass, der in ihm aufstieg, brachte ihn schier um den Verstand. Er zwang sich, mit aller Gewalt an etwas anderes zu denken.

Hätte er geahnt, dass er Carla nie wiedersehen würde, wäre ihr letztes Gespräch anders verlaufen. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, zu erfahren, was Carla ihm so Wichtiges hatte erzählen wollen. War sie hinter das Geheimnis ihrer Herkunft gekommen? War es ihr gelungen, die Identität ihres Vaters aufzudecken? Am liebsten hätte Gianfranco den Stiefel gegen die Wand geschmissen. Der Lederstiefel des Erzherzogs musste für seine Wut herhalten. Die Schlange konnte die Ratte fressen, aber er hatte die undankbare Aufgabe, für das Wohlergehen der Ratte zu sorgen. Seit über zwei Jahren war er jetzt schon in den Diensten des Erzherzogs. Der Meister und Padre Rossi hatten ihn genau instruiert, wie er sich verhalten musste. Mit einem gefälschten Empfehlungsschreiben, dessen Inhalt er bis heute nicht kannte, war es ein Kinderspiel gewesen, Kammerdiener des Erzherzogs zu werden.

Gianfranco legte den silbernen Schlangenring ab, den er wie seine Zwillingsschwester an seinem linken Mittelfinger trug. Dann nahm er einen Lumpen mit Schlämmkreide und polierte die silbernen Schuhschnallen auf Hochglanz. Traurig lächelnd dachte er daran, wie Carla und er in ihrer Kindheit die Schuhe von Padre Rossi polieren durften. Jeder hatte einen Stiefel genommen und mit besonders viel Spucke zu erreichen versucht, dass sein Schuh noch glänzender wurde als der des anderen. Carla und er waren nie voneinander getrennt gewesen. Ein Leben ohne Carla war für ihn unvorstellbar. Aber er würde dafür sorgen, dass seine geliebte Schwester nicht umsonst gestorben war. In seinem Schmerz stieg eine Woge abgrundtiefen Hasses auf die Monarchie in ihm hoch. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, seinen Hass genauso schnell, wie er kam, wieder versiegen zu lassen. Teil seiner Erziehung bei Padre Rossi war es gewesen, seine Gefühle immer hinter einer Maske aus Gleichmut und Unnahbarkeit zu verstecken. Weder Carla noch er hatte eine klare Erinnerung an ihre frühe Kindheit. Der Padre hatte ihnen erzählt, dass sie mit fünf Jahren in seine Obhut gekommen waren. Es war der letzte Wille ihrer Mutter gewesen. Das Rätsel um ihren Vater hatten sie nie lösen können. Dank einer ausgesprochen großzügigen Apanage hatte es ihnen an nichts gefehlt. Er atmete beherrscht ein und aus. Nachdem die Stiefel fertig waren, prüfte Gianfranco, ob die Kniestrümpfe des Erzherzogs keine Löcher hatten. Er sah nach, wie der Zustand der Unterwäsche war und ob alle Spitzen der Krawatte makellos fielen. Dann nahm er sich die Perücken vor. Er kämmte vorsichtig die Haare, und wo es notwendig war, brannte er neue spiralförmige Locken mit dem Lockenstab. Aber Gianfranco war so wenig bei der Sache, dass ihn erst der Geruch von verbranntem Haar zu mehr Aufmerksamkeit zwang. Er puderte die lockige Haarpracht ringsherum und besprengte sie mit reichlich Parfüm, damit der unangenehme Geruch überdeckt wurde.

Gianfranco dachte zum wiederholten Male daran, wie die Schreckensnachricht ihn erreicht hatte.

Er war mit Silvio dem Gaukler im Dom verabredet gewesen, denn dorthin konnte er am ehesten gehen, ohne Argwohn zu erwecken. Schon als er sah, wie Silvio auf ihn zukam, konnte er in dessen Augen lesen, dass Carla tot war.

„Deine Schwester lebt nicht mehr. Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Ein betrunkener Gast im Rosario hat sie aus Zorn, weil sie ihn nicht erhören wollte, einfach erstochen. Sie ist noch in der Gaststätte verblutet.“ Silvio hatte seine Hand auf Gianfrancos Schulter gelegt und ihn zu trösten versucht. „Ich habe den Mut deiner Schwester immer bewundert. Sie war eine außergewöhnliche junge Frau. Deine Schwester und du, ihr seid für mich große Vorbilder. Dank der Erziehung, die ihr bei Padre Rossi genossen habt, seid ihr gebildet wie niemand, den ich sonst kenne. Ihr könnt lesen und schreiben und sprecht dazu noch fließend Deutsch und Griechisch. Und trotzdem hat sich Carla wie eine einfache Schankmagd geben können. Genauso wie du deinen Dienst als Kammerdiener des Erzherzogs perfekt ausübst. Als damals Padre Rossi sie bat, Schankmagd in der Trattoria Rosario zu werden, hat sie keinen Augenblick gezögert, diese schwere Last auf sich zu nehmen. Ich bezweifle, dass jeder von uns so aufopferungsvoll für unseren Bund eingetreten wäre.“

Gianfranco hatte sich von der steinernen Bank erhoben und Silvio den Arm gedrückt.

„Danke, mein Freund, ich muss jetzt alleine sein. Unterrichte Padre Rossi. Wir sehen uns nächste Woche.“

Das Bügeleisen war nun heiß genug. Geschickt legte Gianfranco das Justaucorps auf einen mit weißem Linnen bedeckten schmalen Tisch. Er tauchte ein dünnes Tuch in klares Wasser, dem er ein paar Tropfen Rosmarinöl beimischte. Dann breitete er das Kleidungsstück auf dem Tisch aus; dabei achtete er penibel darauf, dass die Armaufschläge und die Falten der Rockschöße akkurat lagen. Gianfranco bedeckte den geometrisch gemusterten Seidenbrokat des Ausgehrocks mit dem feuchten Tuch und ließ das Bügeleisen zischend niedersinken. Es dampfte. Er konnte zwar so tun, als wenn alles weiterginge wie bisher, aber sein Leben hatte sich für immer verändert. Carla war nicht mehr. Gianfranco atmete tief durch. Er sog den wohltuenden Geruch ein und versuchte sich wieder zu sammeln. Nach und nach kam das Justaukorps in Form. Ein ums andere Mal stellte er das Bügeleisen auf die Ofenplatte und feuchtete sein Tuch an, bis das Kleidungsstück in frischem Glanz erstrahlte. Eine Frage ließ ihn nicht zur Ruhe kommen: Konnte er sich sicher sein, dass Carla das Opfer eines unglücklichen Zufalls war, oder war sie womöglich von einem Spion der Habsburger ermordet worden?

Die Schlangenmaske

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