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4 Mailand, Trattoria Rosario, August 1776

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Die Anstellung beim Opernbau musste gebührend gefeiert werden. Marcello und Armando kannten eine Schenke, in der Suppe und Wein für kleines Geld zu haben waren.

„Wir hatten großes Glück, dass wir ohne die Bescheinigung des Beichtvaters eingestellt wurden, nicht wahr?“, rief Armando lachend, während sie den Domplatz in nördlicher Richtung verließen.

„Hast du nicht gemerkt, dass die mit uns Schabernack getrieben haben? Mein Gott, Armando, wenn die zu dir gesagt hätten, du musst gut singen können, wenn du ein Opernhaus bauen willst, hättest du ihnen womöglich auch noch vorgesungen.“

„Das Singen hätt ich dir überlassen, keine Sorge. So wie du singt keiner! Da kann dir niemand das Wasser reichen. Auf dem Gebiet hast du echt Talent. Dafür hab ich aber wenigstens überhaupt etwas gesagt, während du wieder einmal neben mir gestanden und bloß wie ein stummer Fisch geglotzt hast. Schwamm drüber, wir wollen uns heute nicht streiten. Schließlich haben wir allen Grund zum Feiern!“

Während ihres kurzen Disputs hatten sie die Schenke erreicht und betraten den ebenerdigen Gastraum der Trattoria Rosario. Schnell gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit im Inneren der Wirtschaft.

Noch verloren sich die wenigen Gäste an den langen Tischen. Die Steinplatten des Fußbodens waren feucht vom Putzen und glänzten dunkel. Es roch modrig, doch wenn man wollte, konnte man den Duft einer Kohlsuppe aus der Küche erahnen. Die Freunde bestellten Wein.

Der Wirt war ein unfreundlicher, grobschlächtiger Kerl. Trotzdem beobachtete Marcello mit Respekt, wie er scheinbar mühelos ein großes Fass Wein auf den Schanktisch hob. Marcello und Armando nahmen an einem der Holztische auf schmalen Bänken Platz.

„Wollt ihr auch essen?“ Ein hübsches Schankmädchen stellte einen Krug und irdene Becher vor sie hin.

Marcello hatte das Mädchen noch nie gesehen. Als sie das Gasthaus die letzten Male besucht hatten, waren sie vom Wirt oder seiner verdrießlich dreinschauenden, hässlichen Frau bedient worden.

„Bring uns Suppe und einen Laib Brot“, sagte Armando, ohne weiter von der jungen Frau Notiz zu nehmen, und füllte die Becher mit Wein. „Was ist?“, fragte er Marcello. Er wollte mit ihm anstoßen. Doch Marcellos Blick folgte dem Mädchen, das hinter einem schmutzigen Vorhang verschwand. „Hast du sie gesehen?“, flüsterte er.

„Wen denn?“

„Na, die neue Schankmagd, die uns gerade den Wein gebracht hat. Armando, hast du keine Augen im Kopf?“

„Ich will jetzt was trinken, nach Weibern schau’n wir später! Salute, auf das neue Opernhaus! Auf dass wir lange Zeit Arbeit haben.“

Sie nahmen einen großen Schluck Wein.

„Menschenskinder, ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir es geschafft haben“, griff Armando das Gespräch wieder auf. „Was sie berappen wollen, haben sie uns allerdings nicht gesagt.“

„Ich muss dringend meine Miete zahlen, sonst muss ich am Ende noch meiner aufdringlichen Vermieterin gefällig sein.“

Armando lachte lauthals los. „Der alten Vettel? Na, dann können wir ja nur hoffen, dass wir gleich morgen einen Vorschuss bekommen! Mir bereitet eher Kopfzerbrechen, dass dieser Filippo Moro uns nur kurz brauchen könnte. Wenn die Drecksarbeit getan ist, nehmen sie dann die erfahrenen Handwerker, die wissen, wie es geht. Wir müssen von Anfang an zeigen, was wir können.“

Marcello richtete wie gebannt seinen Blick auf den Vorhang, hinter dem die junge Frau gerade wieder zum Vorschein kam. „Jetzt schau doch endlich mal, Armando, das Mädchen ist ganz anders als die derben Mägde, die hier sonst rumgesprungen sind. Sie bewegt sich fast so anmutig wie eine der Balletttänzerinnen, die ich in der Oper gesehen habe. Die passt hier gar nicht her, wenn du mich fragst.“

Etwas ärgerlich sah Armando auf. „Marcello, du solltest jetzt über andere Sachen nachdenken als über die Anmut einer Schankmagd.“

Marcello ignorierte Armandos Bemerkung.

„Hast du den Ring gesehen, den sie am Mittelfinger trägt? Seit wann tragen Schankmägde Ringe?“

„Was ist heute mit dir los? Du machst dir einen Kopf über Dinge, die dich nichts angehen! Mir ist das schnuppe, ob die einen Ring trägt oder nicht.“

Mit einer Schüssel dampfender Suppe kam die Magd auf ihren Tisch zu. Sie hielt den Suppentopf mit beiden Händen fest und hatte einen Brotlaib unter dem rechten Arm an ihrer verschwitzten Brust eingeklemmt.

„Hier haben sie eine neue Methode, um ihr altes Brot aufzubacken“, flüsterte Marcello leise lachend.

Die Bewegungen der Serviererin waren trotz Schüssel und Brot gewandt und kraftvoll. Ihr schmales Gesicht war von dunklem, lockigem Haar umrahmt. Sie stellte die Speise vor den jungen Männern ab und holte zwei Löffel aus der Tasche ihrer speckigen Schürze. Einen Augenblick lang blieb sie unschlüssig stehen.

Armando warf einen prüfenden Blick in die Schüssel. „Ich hoffe, das reicht, um unsern Hunger zu stillen. Ich heiße Armando, und das ist Marcello. Du gefällst meinem Freund. Siehst du? Er macht schon Stielaugen! Setz dich doch zu uns. Wie heißt du? Bist du neu hier?“

Marcello spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.

„Carla heiß ich“, antwortete sie.

„Carla, wir haben heute was zu feiern.“ Armando klopfte mit einer Hand auf den freien Platz neben sich, ehe er zwei Kellen Suppe in seinen Teller schöpfte und ein Stück Brot abbrach.

„Was haben denn zwei Kerle wie ihr beiden zu feiern? Was macht ihr den lieben langen Tag?“

„Ab Morgen sind wir richtige Bauarbeiter! Wir werden das neue Opernhaus bauen!“

„Und?“ Carla warf einen abwartenden Blick auf die beiden. „Ist dein Freund stumm? Kann er nicht sprechen?“

„Lustig, dass du das fragst! Das Gleiche hab ich mich heute nämlich auch schon gefragt. Allerdings kann ich dich beruhigen: Bis vor zwei Minuten hat er noch geredet.“ Armando lachte. „Mit dem Sprechen hat er es aber wirklich nicht so. Doch du solltest ihn mal singen hören! Wie ein Zeiserl zwitschert er.“

Carla zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Du bist ein Musikus?“

„Wo bleibst du, Carla? Die Kundschaft will essen, faules Stück“, brüllte in dem Moment der Wirt hinterm Tresen zornig durchs Lokal.

„Ich würd mich gern weiter mit euch unterhalten, Burschen. Ihr gefallt mir. Aber ihr hört ja, ich muss arbeiten, sonst fängt der Wirt noch an zu toben und schmeißt mich raus“, flüsterte die Magd und eilte dann mit eingezogenen Schultern schnell wieder in die Küche.

Der Gastraum hatte sich allmählich gefüllt und auch an ihrem Tisch nahmen nun einige Männer Platz. Es waren Handwerker, Händler oder Tagelöhner, die im Rosario einkehrten. Heute fanden sich auch zwei Mönche unter den Mittagsgästen.

„Was haben die denn hier zu suchen? Das Essen kann sie wirklich nicht hergelockt haben.“ Marcello schob sich einen weiteren Löffel dünner Suppe in den Mund.

„Schau, die hätten wir zur Not bitten können, uns die Beichte abzunehmen.“ Die Freunde grinsten sich an.

Als sie ihre Kohlsuppe ausgelöffelt hatten und der Wein leer getrunken war, warteten sie noch eine Weile, ob Carla zu ihnen zurückkehren würde. Doch die hatte keine freie Minute mehr. Also standen die beiden auf, um beim Wirt zu bezahlen. Marcellos Blick folgte der Schankmagd, wie sie zwischen Küche und Gastraum hin und her eilte. Sie räumte flink Teller und Schüsseln zusammen oder brachte die leeren Krüge zum Wirt, der sie wieder mit Wein aus dem Fass füllte.

Als Armando und Marcello gerade dabei waren, den Wirtsraum zu verlassen, kam Carla mit einem Stapel Teller auf sie zugelaufen. „Auf bald“, rief sie, ohne ihr Tempo zu verlangsamen.

„A presto, Carla!“ Marcello errötete. Es waren die ersten Worte, die er zu ihr sprach. Die Schankmagd hob erstaunt den Kopf und lächelte ihn an.

Auf dem Weg zurück in ihr Viertel hingen Armando und Marcello ihren Gedanken nach. Die staubige Hitze der Straße, das Essen und der Wein hatten sie müde gemacht. Die Schatten, die die großen Gebäude um diese Zeit in die Gassen warfen, strahlten eine angenehme Kühle aus. Als sie den Duomo di Santa Maria Nascente sahen, verlangsamten sie ihre Schritte.

„A domani, amigo. Und verschlaf nicht, Marcello!“

„Ich habe noch versprochen, im Hospiz der Maria Gaetana Agnesi vorbeizuschauen. Bis morgen!“, erwiderte Marcello.

Als Marcello die schwere Holztür der Casa Agnesi aufstieß, wehte ihm der vertraute Geruch seiner Kindheit entgegen. Es roch nach Brot, Schweiß, nasser Wäsche und trotz der Sommerhitze nach kaltem Rauch.

Im Nu war er von einer Schar Kinder umringt, die in blauen Schürzen aus grober Wolle steckten. Zwei kleine Jungen hängten sich an seine Beine.

„Schluss! Macht, dass ihr verschwindet. Wo ist Nonna Ines?“ Ungeduldig schüttelte er die Rasselbande ab.

In diesem Moment bog eine hagere, gebückte Frau um die Ecke. Als sie Marcello erblickte, leuchteten ihre müden Augen. Zur Freude der Kinder hob Marcello die kleine alte Magd in die Luft und drehte sich mit ihr im Kreis. „Nonna Ines, du wirst es nicht glauben, ich habe endlich Arbeit gefunden!“

„Marcello, lass mich sofort runter, ich krieg keine Luft mehr. Was sagst du? Du hast Arbeit gefunden? Gott sei gedankt!“

Marcello stellte die alte Magd wieder auf den Boden und schaute sie glücklich an.

„Aus meinem kleinen Marcellino ist ein richtiger Mann geworden.“ Ihr liebevoller Blick ruhte auf ihm. Plötzlich drehte sie sich zu den Kindern um und rief: „Kehrt den Hof und füttert die Schweine! Wer hat euch erlaubt, hier herumzutollen?“

Als die Kinder davongerannt waren, wandte sie sich wieder Marcello zu. „Komm, ich zeig dir die kaputten Fensterläden, die du reparieren sollst.“

Marcello machte sich an die Arbeit. Gekonnt ersetzte er die verwitterten Holzlatten durch neue, sägte und passte ein, sodass nach nicht einmal zwei Stunden die Läden geflickt waren. Während der Arbeit sang er laut seinen Lieblingspsalm, Ich bete zu Dir, früh am Morgen! Eine Erinnerung an seine Kindheit. Mit diesem Psalmlied wurde hier im Waisenhaus jeder Tag begrüßt.

Als er Nonna Ines aufsuchte, um sich von ihr zu verabschieden, nahm sie ihn am Arm. „Ich lasse dich nicht fort, ehe du nicht unsrer Wohltäterin Madre Maria Gaetana Agnesi deine Aufwartung gemacht hast. Sie freut sich immer, wenn du zu Besuch kommst. Noch dazu mit so guten Neuigkeiten. Um diese Zeit ist sie im Speisesaal.“

Schon von Weitem erkannten sie die aufrechte Gestalt der Mutter Oberin, die in ihrer weißen Nonnentracht eine beeindruckende Erscheinung war. Groß und immer noch schlank stand sie zwischen den Regalen, in denen sich Brotlaibe stapelten. Mit einem symbolischen Kreuz segnete sie gerade die einzelnen Laibe.

„Madre Maria Gaetana Agnesi, Marcello hat die kaputten Fensterläden gerichtet. Er wollte Euch noch schnell eine gute Nacht wünschen, bevor er wieder weiter muss.“

„Marcello, es freut mich, dich zu sehen! Erst vorhin habe ich an dich gedacht. Mir war so, als wenn ich deine wunderschöne Stimme gehört hätte. Ich vermisse dich, wenn wir unsere Choräle singen. Danke für deine Hilfe. Magst du mit uns essen?“

„Nein, mille grazie, Madre, ich muss gehen. Bin schon auf dem Sprung. Lasst mich rufen, wenn es wieder etwas zu tun gibt. Ich arbeite ab morgen auf der Baustelle vom neuen Opernhaus. Ab jetzt werd ich zwar nicht mehr so viel Zeit haben wie bisher, aber für Euch tu ich alles!“

„So so.“ Die Stimme von Maria Gaetana Agnesi hatte einen strengen Ton angenommen. „Du gehörst also auch zu denen, die unsere Kirche Santa Maria alla Scala durch einen Musentempel ersetzen wollen? Du solltest dich schämen! Aber ich weiß natürlich, dass du dafür nicht die Verantwortung trägst. Hier, mein Junge, nimm einen Laib Brot als Dank für deine Arbeit. Auf bald! Gott segne dich, Marcello!“

Die Schlangenmaske

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