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2 Mailand, Vicolo Giovanni, August 1776
ОглавлениеBernsteinfarbenes Licht drang durch das kleine Fenster in die winzige Kammer.
Marcello rekelte sich auf der harten Pritsche, doch er konnte nicht länger liegen bleiben. Heute würde er sich beeilen müssen. Durch die dünne Holzwand hörte er voller Neid seine Nachbarn noch laut und gleichmäßig schnarchen. Marcello stand auf und wusch flüchtig seinen sonnengebräunten, muskulösen Oberkörper mit dem kalten Wasser in einer zerbeulten Schüssel. Danach goss er pfeifend den Inhalt der Schüssel aus dem Fenster. Kurz lauschte er dem Wasserschwall nach, als auch schon ein lauter Fluch aus der engen Gasse heraufschallte.
„Bastardo, verfluchter Hurenbock“, schrie die alte Vettel von unten. Wie jeden Morgen. Hastig zog Marcello seinen Kopf zurück. „Treffer“, murmelte er, dann rief er laut: „Scusi!“
Er hatte wenig Sorge, dass man ihn zur Rechenschaft ziehen würde. Jeder der Männer, die unter dem Dach eine Schlafstätte für ein paar Münzen gemietet hatten, hätte der Übeltäter sein können.
Lange würde er sich dieses Nachtlager ohnehin nicht mehr leisten können, wenn nicht bald ein Wunder geschah. Er war schon seit zwei Monaten den Mietzins schuldig. Seine ganze Hoffnung galt dem heutigen Tag.
Schnell schlüpfte Marcello in seine ausgefranste Hose und sein bestes Hemd. Der blaue Leinenstoff war zwar auch schon an mehreren Stellen so abgeschabt, dass man seine Haut durchschimmern sah, aber es war immer noch in einem besseren Zustand als die beiden anderen Hemden. Mehr Kleidungsstücke besaß er nicht.
Marcellos Magen knurrte. Mit großem Hunger war er gestern eingeschlafen. Er hatte von gesüßter Eiermilch und Polentabrei geträumt, aber der Traum hatte ihn nicht satt gemacht. Er schaute sich nach etwas Essbarem um. Nichts war da, alle Vorräte waren aufgebraucht. Marcellos Blick fiel auf ein paar Brotkrumen, doch die hätten nicht einmal eine Maus satt machen können. Gedankenverloren schob er die Brosamen zusammen und steckte sie sich in den Mund. Was war das nur für ein erbärmliches Dasein!
Aufgewachsen im Waisenhaus hatte er von klein auf gelernt, dass man im Leben nichts geschenkt bekam. Manchmal fragte er sich, wofür es sich überhaupt zu leben lohnte. Die einzigen Lichtblicke in dieser Trostlosigkeit waren die Musik und seine Freunde.
Bisher war er nicht gerade vom Glück begünstigt gewesen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und seine Mutter früh verloren. Sie war auf tragische Weise bei einem Feuerwerksspektakel, das zu Ehren des damaligen Mailänder Regenten veranstaltet worden war, ums Leben gekommen. Mehr als dreißig Zuschauer büßten in jener Nacht ihr Leben ein. Eine Witwe aus der Nachbarschaft hatte sich des Waisenkindes angenommen. Sie hieß Nonna Ines und war Magd bei Maria Gaetana Agnesi, der Leiterin eines Hospizes. In diesem Heim hatte Marcello seine Kindheit verbracht. Damals war das Schönste für ihn das Singen bei der morgendlichen Frühmesse gewesen. Nur wenn er sang, war er glücklich und mit sich und der Welt im Reinen.
Marcello verließ den Bretterverschlag unterm Dach und verschloss die Tür notdürftig mit einem Holzriegel. Eilig ging er die ausgetretenen Stufen der Treppe hinab, vorbei an den Türen, hinter denen er das gedämpfte Klappern von Töpfen und den Duft einer frühen Morgensuppe wahrnahm. Neben dem Eingang lauerte ihm seine Vermieterin auf.
„Marcello, wann bekomm ich mein Geld? Wenn du nicht bald zahlst, setz ich dich auf die Straße!“ Ihr rüder Tonfall veränderte sich und wurde plötzlich schmeichlerisch. „Ich hab mit dir sowieso schon mehr Nachsehen als mit den anderen Taugenichtsen. Das verdankst du einzig und allein deinem schönen Gesicht und deinen dunklen Augen.“ Die Alte rückte näher an ihn heran. „Du kannst deine Schulden auch bei mir abarbeiten. Du weißt schon, wie ich’s meine!“ Sie fuhr Marcello anzüglich mit der Hand über den Arm und blickte ihm herausfordernd in die Augen.
Entsetzt wich Marcello zurück und schüttelte die Hand ab. Was glaubte dieses Weib eigentlich? „Na, so schlimm steht’s noch nicht um mich! Du kriegst schon noch dein Geld, keine Sorge.“ Mit diesen Worten trat er schnell aus der Tür ins Freie, während die Vermieterin hinter ihm her schrie: „Komm mir bloß nicht frech, sonst kannst du gleich heut noch dein Bündel schnüren, du Lump!“
Man konnte in dem engen Hinterhof die Sonne nur um die Mittagsstunden sehen, doch das Blau des Himmels versprach, dass es wieder ein strahlender, sonniger Tag werden würde. Marcello atmete die frische Morgenluft tief ein. Im Torbogen sah er seinen Freund Armando, der lässig an der Wand lehnte und die Hände in den Taschen vergraben hatte. Armando überragte Marcello noch an Größe und man sah ihm an, dass er vor Kraft strotzte.
Er bemerkte Marcello nicht gleich, da er das langsam beginnende Leben in der Gasse beobachtete.
Seit Tagen gab es zwischen den beiden jungen Männern nur ein einziges Thema. Immer und immer wieder unterhielten sie sich über den Neubau der Oper und darüber, ob es ihnen gelingen würde, dort Arbeit zu finden.
Es waren erst wenige Monate vergangen, seit das Teatro Regio Ducale abgebrannt war, und wenn man an der Ruine vorbeiging, lag der Geruch des Brandes nach wie vor über dem Platz. Nur zu gut konnten sich die meisten Einwohner Mailands an das schreckliche Flammeninferno in der Karnevalsnacht erinnern. Viele hatten um ihr Hab und Gut gebangt. Auch der Statthalter von Mailand, Erzherzog Ferdinand von Habsburg, hatte um seinen Palazzo gefürchtet. Wie durch ein Wunder war das Feuer nicht vom Theater auf die direkt angrenzende Residenz übergesprungen.
„Armando, du bist ja schon da! Bin ich zu spät oder bist du zu früh dran?“, rief Marcello fröhlich.
„Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, ich war viel zu aufgeregt. Und ob ich auf meinem Bett liege und nicht schlafen kann oder an dieser Hauswand lehne und auf dich warte, ist egal.“
Marcello stieß seinem Freund den Ellbogen in die Rippen. „Lass uns gehen. Du weißt wohin?“
„Ja, das Zelt ist gleich hinterm Dom. Ich hab gestern gesehen, wie sie es aufgestellt haben.“
Sie traten durch den Torbogen des Hinterhofs hinaus auf die Via della Valverde.
Ohne ein Wort darüber zu verlieren, nahm Armando ein frisches Brot aus seiner Tasche, brach ein großes Stück ab und gab es ihm.
Was für ein Freund, dachte Marcello. Er wusste, dass Armando selbst stets große Mühe hatte, satt zu werden. Immerzu hatte Armando Hunger. Und nun teilte er auch noch mit ihm!
Als sie auf die Via Duomo einbogen, veränderte sich der Pulsschlag der Stadt augenblicklich. Hier war Mailand schon erwacht.
Marcello und Armando schlängelten sich an den zahlreichen Bauern mit ihren Fuhrwerken vorbei, die in den frühen Morgenstunden schwer beladen von den umliegenden Dörfern aufgebrochen waren, um ihre frischen Waren in der großen Stadt zu verkaufen. Argwöhnisch wachten die Händler darüber, dass nichts verloren ging. Gänse und Enten streckten ihre Hälse schnatternd aus den engen, kunstvoll geflochtenen Weidenkörben, nicht ahnend, dass sie vielleicht schon am Abend kross gebräunt in den vornehmen Palazzi verspeist werden würden. Die Fuhrwerke kamen nur langsam vorwärts, so überfüllt waren die Gassen.
In Sichtweite des Domes boten Handwerker wie seit ewigen Zeiten ihre Dienste an. Schuster in schweren Lederschürzen breiteten Leisten, Nägel und Zangen vor sich aus. Sie hatten Draht- und Rosshaarborsten eingefädelt bereitgelegt, um das Schuhwerk der Kunden zu flicken. Schmiede waren noch damit beschäftigt, ihre Feuer zu entfachen, und Metzger zerteilten auf ihren Holztischen frisch geschlachtete Ziegen und Schweine.
Heute hatten Marcello und Armando für das Markttreiben keinen Blick. Zum wiederholten Mal fiel ihnen auf, wie mühsam es sein konnte, zügig durch das Wirrwarr von Menschen, Ständen und Karren zu gelangen, wenn man es eilig hatte.
Plötzlich ging es weder vor noch zurück. Mitten auf einem kleinen Platz stand ein Feuerspucker. Auf seiner Schulter saß ein Affe, der eine brennende Fackel in seinen Händen hielt. Ohne jede Vorwarnung spuckte der Gaukler einen großen Feuerschwall in Richtung seines Publikums, sodass viele Zuschauer erschrocken zurückwichen.
Marcello und Armando ließen sich nicht aufhalten.
„Der Gaukler scheint keine Angst vor Feuer zu haben, und sein Affe auch nicht“, meinte Armando, der sich gerade geschickt an einem Mann vorbeischob, auf dessen Rücken fünf tote Ferkel an einem Seil zusammengebunden baumelten. „Seit dem großen Brand ist mir der Anblick von Feuer verhasst!“ Die beiden Freunde hatten zu den zahlreichen freiwilligen Helfern gehört, die zusammen mit den Brendatores vergeblich das Feuer zu löschen versucht hatten, dem das Teatro Regio Ducale zum Opfer gefallen war.
„Sieh es doch mal von der Seite, Armando: Wenn das Theater nicht abgebrannt wäre, könnten wir jetzt nicht zum Dom gehen und auf Arbeit hoffen.“
„Weißt du noch, wie heiß die Löscheimer geworden sind? Es hätte nicht viel gefehlt und das Wasser hätte darin gekocht. Kein Wunder, dass wir den Brand nicht löschen konnten. Die Lage war aussichtslos. Ich wache immer noch manchmal nachts auf und höre die Schreie der Helfer, wie sie wild durcheinanderrufen. Wenigstens haben wir es geschafft, die meisten der umliegenden Häuser zu retten. Wenn nicht so viele aus unserem Viertel geholfen hätten, wäre vielleicht ganz Mailand abgebrannt!“
„Mir wollen diese schrecklichen Bilder auch nicht mehr aus dem Kopf gehen. Das ohrenbetäubende Knacken und Prasseln vom Feuer und das Knallen der zerspringenden Glasscheiben waren fürchterlich. Und wie die Holzbalken runtergedonnert sind! Ich fand Feuer immer faszinierend, aber jetzt nicht mehr.“
„Du warst doch bei der letzten Vorstellung im alten Opernhaus. Hast du damals gar nichts Verdächtiges mitbekommen?“
„Armando, das war der erste und bisher einzige Opernbesuch meines Lebens! Alles war für mich vollkommen neu und absolut fremd. Ich war von der Musik völlig begeistert. Du kannst dir die Stimmung, die in dem Theater geherrscht hat, nicht vorstellen. Es roch gleichzeitig nach Parfüm, Puder und Tabakrauch. Die Fußböden waren blank wie Spiegel. Überall brannten Kerzen und spiegelten ihr Licht im geschliffenen Glas der Kronleuchter. Von meinem Stehplatz ganz oben unterm Dach konnte ich alles genau sehen. Ich habe so viele feine und noble Menschen wie unten im Parkett noch nie auf einmal gesehen! Und als sich dann der samtrote Vorhang hob und das Orchester angefangen hat zu spielen, habe ich alles um mich herum vergessen. Die Sänger standen auf der Bühne in einer richtigen Landschaft, mit Bergen, einem Himmel und einem echten Baum. Da war’s um mich geschehen. Da konnte ich nur noch staunen und zuhören! Ich habe den Stimmen der Sänger gelauscht, die glasklar und deutlich bis ganz zu mir hinauf klangen. Jeden einzelnen Ton hab ich in mich aufgenommen. Ich hatte nur Augen für die Bühne! Für sonst nichts!“
„Du hast die Oper bestimmt nicht angezündet, Marcello!“, spottete Armando.
„Hätte ich das Billet nicht von Madre Maria Gaetana Agnesi geschenkt bekommen, wüsste ich gar nicht, dass es so etwas Wundervolles überhaupt gibt.“
Sie bogen um eine Ecke und sahen plötzlich ein großes Zelt, vor dem ein Tisch stand.
Vor lauter Reden hatten sie gar nicht bemerkt, dass sie ihr Ziel bereits erreicht hatten. Hier wurde entschieden, wer an Mailands neuem Opernhaus mitbauen würde und in den nächsten Monaten auf ein sicheres Einkommen zählen durfte.
Viele Männer waren erschienen, um eine der begehrten Anstellungen als Bauarbeiter zu ergattern. Es bedurfte schon einiger Mühen, um sich in dem Gedränge nicht zu verlieren. Die Freunde mussten sich neben Steinmetzen, Malern, Maurern und dem Heer von Tagelöhnern behaupten. Um sie herum kam es immer wieder zu kleineren Rempeleien, es wurde geschrien und geschimpft, aber nach einer guten Stunde hatten sie es geschafft: Vor ihnen saß auf einem Hocker, umringt von einer Schar seiner Helfer, ein Mann, der hier offensichtlich das Sagen hatte. Er wurde mit außergewöhnlichem Respekt behandelt und hieß Filippo Moro.
Sie beobachteten, wie zwei schmächtige ältere Männer vor ihnen schroff von ihm als zu schwach für die harte Arbeit abgewiesen wurden.
Als nun die Reihe an ihnen war, fragte sie der Einsteller ruppig: „So, und ihr wollt also Santa Maria alla Scala abreißen? Groß und stark seht ihr zwar aus, aber bevor wir euch einstellen: Habt ihr die Erlaubnis eures Beichtvaters mitgebracht?“
Während die Umstehenden lachten, sahen sich Marcello und Armando verwirrt an.
„Verehrter Herr, davon haben wir nichts gewusst!“ Armando bekreuzigte sich und stotterte: „Mein Freund und ich wollten die neue Oper bauen und nicht eine Kirche abreißen. Vielleicht sind wir hier falsch?“ Unsicher blickte Armando sich um.
Erneut erklang schallendes Gelächter.
Die Freunde begriffen, dass man einen Scherz mit ihnen trieb. Ehe einer der beiden noch etwas erwidern konnte, war Filippo Moro aufgestanden, drehte sich um und verschwand im Bauzelt.
Zu ihrer grenzenlosen Freude trug ein Helfer ihre Namen in eine Liste ein und bestellte sie für den nächsten Morgen.
Marcellos und Armandos Jubel kannte keine Grenzen. Es war ihnen gelungen, eine der begehrten Anstellungen auf der Baustelle der neuen Oper zu bekommen!
Als sie von dem Zelt weggingen, fiel Marcello auf, dass sie gar nicht gefragt hatten, was sie zu tun haben würden. Egal – Hauptsache, sie hatten endlich Arbeit. Das musste gebührend gefeiert werden!