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11 Mailand, Baustelle, September 1776
ОглавлениеDas Wetter blieb sonnig und warm, nur in den frühen Morgenstunden und am späten Nachmittag wurde es jetzt schon manchmal merklich kühler.
Wie ein gut geöltes Mühlrad war Marcello täglich zur Baustelle gegangen und arbeitete dort so hart, wie er nur konnte.
Abends nahm er manchmal Carlas Ring unter seiner Matratze hervor. Er drehte ihn immer wieder zwischen seinen langen schlanken Fingern hin und her. Das schwere Schmuckstück aus Silber war sicher einen Batzen Geld wert. Auf der polierten, gewölbten Oberfläche lag kunstvoll eine schuppige Schlange im Kreis. Die Schlange biss sich selbst in den Schwanz – oder fraß sie sich selbst auf? Woher mochte Carla dieses Schmuckstück gehabt haben? Wie war er in ihren Besitz gelangt? Es war ganz offensichtlich ein Männerring, und die Schlange wirkte auf Marcello eher abstoßend und furchteinflößend. Er dachte an die Vertreibung aus dem Paradies, an Adam und Eva und die Schlange. Jedenfalls war es kein Ring, der eine Frau zierte.
Marcello rätselte. Vielleicht hatte sie ihn von einem früheren Liebhaber oder von ihrem Vater geschenkt bekommen. Oder hatte Carla den Ring etwa gestohlen? Das wollte er aber nicht glauben, denn dann hätte sie ihn wohl nicht für alle sichtbar getragen. Warum nur hatte sie ihm den Ring im Angesicht des Todes in die Hand gedrückt? Sie kannte ihn doch gar nicht. Was hatte Carla damit bezwecken wollen? Eines stand jedenfalls fest: Wenn er den Ring nicht an sich genommen hätte, hätte der Totengräber ihn schon längst in Schnaps verwandelt! Da war es doch besser, wenn er das Schmuckstück in Ehren hielt.
Ein paar Tage nach dem grausamen Mord ging Marcello noch einmal ins Rosario. Niemand hatte bisher nach Carla gefragt. Der Wirt berichtete ihm, was geschehen war, nachdem er und Armando das Weite gesucht hatten. Die Miliz war eingetroffen, der Mörder in Arrest genommen und Carlas Leichnam mit dem Eselskarren abtransportiert worden. Am nächsten Tag war der Betrieb in der Trattoria Rosario weitergegangen, wie wenn nichts gewesen wäre. Der Wirt und seine Frau hatten sogar schon eine neue Schankmagd eingestellt. Dort dachte niemand mehr an Carla.
Durch die Erlebnisse der letzten Tage war Marcello eines klar geworden: Mehr denn je wurde ihm bewusst, dass auch sein Leben von einer Sekunde zur anderen vorbei sein konnte. Er beschloss, von nun an jeden Tag voll auszukosten, und wollte nicht länger Trübsal blasen. Der Ring sollte sein Talisman werden und ihn stets daran erinnern.
Die Kirche Santa Maria alla Scala war inzwischen fast bis auf die Grundmauern abgetragen worden. Einzig der Glockenturm der Kirche ragte unübersehbar in den Himmel. Der frei gewordene Platz war übersät mit Steinquadern, Marmorplatten und Holzbalken. Wasserspeier, die wegen der Höhe ihres bisherigen Standorts kaum wahrgenommen worden waren, lagen nun am Boden zu einer grimmig dreinschauenden Gruppe vereint. Eine steinerne Taube mit einem Ölzweig im Schnabel, die die Außenfassade der Kirche geschmückt hatte, war achtlos auf der Erde abgestellt worden. Fast schien es, als rastete die Taube ein Weilchen auf dem großen Platz. Dass hier einmal ein Gotteshaus gestanden hatte, verriet nur noch der Glockenturm.
Ein fast leerer Platz mitten in der Stadt bot nun eine neue, einzigartige Perspektive. Die großen Patrizierhäuser, die bisher von der Kirche Santa Maria alla Scala verdeckt worden waren, kamen ganz neu zur Geltung.
Die Einwohner Mailands reagierten unterschiedlich auf die Veränderung. Während die einen über den Schandfleck schimpften, freuten sich andere über das rege Treiben auf dem Bauplatz. Immer wieder standen größere Gruppen Neugieriger beieinander und bestaunten und kommentierten den Fortschritt des Opernneubaus. Um die große Baustelle herum herrschte mittlerweile fast schon genauso viel Betrieb wie auf dem Platz. Händler verkauften emsig Fladenbrote oder süße Haferkekse an die Herumstehenden. Auch kleine Handwerksbetriebe hatten sich mittlerweile in der Nähe angesiedelt und boten ihre Dienste an. Ein einäugiger Scherenschleifer pflegte zusammen mit seinem Sohn die Eisen der Steinmetze. Während der Sohn den Schleifstein antrieb und immer wieder mit Wasser übergoss, bearbeitete der Einäugige die Beizeisen und Steinspaltwerkzeuge. So wurde für gut funktionierendes Werkzeug der Steinmetze gesorgt. Ein Seiler drehte zusammen mit seiner Frau beharrlich Schnüre und dicke Seile aus gekämmtem Hanf oder Flachs. Da die Seile der Flaschenzüge durch die Belastung der großen Steinquader oft rissen und durch neue ersetzt werden mussten, blühte sein Geschäft. Auch ein Wagner hatte sein Zelt aufgeschlagen. Er stellte geschickt neue Räder für die Ochsen- und Mauleselkarren her oder ersetzte und reparierte zerbrochene Speichen. Etliche Lastenträger liefen hin und her und transportierten wiederverwertbares Holz zu den umliegenden Handwerkern. Auf der Baustelle und um die Baustelle herum herrschte emsige Betriebsamkeit. Den hochaufragenden Glockenturm abzutragen hatten sich die Arbeiter und Steinmetze bis zum Schluss aufgespart, da diese Aufgabe am riskantesten war.
Marcello fand sich, mit einem Meißel, seinem Hundezahn und einem Hammer bewaffnet, auf der höchsten Steinreihe der Kirchenruine wieder und lockerte die Quader für den Abtransport. Dazu musste er den Mörtel mit dem Meißel aus den Fugen schlagen und die losen Steine so verschieben, dass man die Seile herumschlingen konnte. Er befestigte die Seilschlingen, wartete auf das Zeichen von unten und überprüfte die Sicherung des Flaschenzugs, ehe die gewaltigen Gewichte herabgelassen wurden.
Ohne Angst balancierte er völlig schwindelfrei auf den gefährlichsten Mauervorsprüngen. An Stellen, die von den Gerüsten nicht erreicht wurden, half sich Marcello geschickt mit Leitern und Balken weiter.
„Wenn wir mit dieser Arbeit fertig sind, wirst du bei jeder Akrobatentruppe anheuern können“, rief ihm ein Maurer zu, der auf einem Vorsprung unter ihm stand.
„Ich hab auf dem Jahrmarkt ein Mädchen gesehen, das über ein Seil balancierte und dazu die Trommel schlug“, meinte ein anderer lachend, während er Marcello eine Spaltaxt reichte. „Die müsste deine Konkurrenz fürchten.“
„Und falls du dann noch deine schöne Stimme hören lässt, bist du ein gemachter Mann!“
Marcello bemerkte oft nicht, dass er, während er besonders konzentriert arbeitete, eine Melodie oder ein Lied vor sich hin sang. Erst wenn einer der anderen Männer den Refrain mit summte, nahm er wahr, dass er sang. Die Bauarbeiter waren erstaunt gewesen, als sie Marcello das erste Mal hatten singen hören. Sie waren begeistert, wie klangvoll und klar seine Stimme war. Nachdem die Bauleute ihm ausnahmslos ihre Freude darüber kundgetan hatten, ließ seine Schüchternheit immer mehr nach und sein Singen war von morgens bis abends zu hören.
Am heutigen Tag lag eine ungewohnte Anspannung in der Luft. Die Handwerker ordneten ihr Werkzeug, Ecken wurde gekehrt, und auch die Kleidung der verschiedenen Meister verriet, dass etwas Besonderes bevorstand. Sonst lagen Schmutz und Unrat auf dem Platz, aber Filippo Moro hatte die Anweisung gegeben, alles für die bevorstehende Besichtigung aufzuräumen.
Der Architekt Piermarini wurde mit hohen Mailänder Beamten erwartet. Sie wollten die Baustelle selbst in Augenschein nehmen.
Es war um die Mittagszeit, als Marcello von seinem Aussichtspunkt, dem in den strahlend blauen Himmel ragenden Kirchturm, einen ungewöhnlichen Prozessionszug erblickte. An der Spitze dieses Aufmarsches konnte er den Architekten erkennen, der von vornehm gekleideten Stadträten umringt war. Mit seinen großen Gesten, dem dunkelroten Umhang und einer blauen Kappe, die er schräg auf dem Kopf trug, war Piermarini weithin sichtbar. Hinter ihm gingen ungefähr ein Dutzend dunkel gekleideter Beamter, die Rollen aus Papier und Pergament, Zirkel und Messlatten trugen. Der Zug blieb immer wieder stehen. Pläne wurden entrollt und begutachtet. Die Handwerksmeister, die gebührenden Abstand hielten, berieten sich abwechselnd mit den Beamten und dem Architekten.
Der Bauleiter Filippo Moro gab heute einmal nicht den Ton an. Auch er wurde immer wieder herbeigerufen und bekam verschiedene Aufträge zugewiesen.
Marcellos Neugier war zu groß, als dass er das Schauspiel weiter nur von seinem hohen Aussichtspunkt aus beobachten wollte. Er musste näher an den Ort des Geschehens heran!
Schnell ließ er sich, ohne Gerüst oder Seil zu verwenden, an der Außenmauer des verbliebenen Glockenturms herab. So war er schon viele Male zu Boden gelangt. Sicher wie ein Schlafwandler suchten und fanden seine Hände und Füße Spalten und Vorsprünge, die Halt boten. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Boden. Plötzlich spürte er, dass der Stein in seiner linken Hand, dem er in diesem Moment sein ganzes Körpergewicht anvertraut hatte, sich aus der Mauer zu lösen begann. Er meinte für einen Augenblick zu schweben, doch dann ging es rasant abwärts. Seiner Kehle entwich ein markerschütternder Schrei. Marcello schlug hart auf der Erde auf und verlor das Bewusstsein.
Aufgeschreckt richteten sich die Augen aller auf den Herabgestürzten. Armando gehörte zu den Ersten, die den Verunglückten erreichten. Marcello war nicht bei sich, und ein dünnes Rinnsal Blut floss aus seinen dunkelbraunen Locken über die Stirn. Er hatte die Augen geschlossen und seine langen Wimpern vibrierten unruhig. Nur allmählich kehrten seine Lebensgeister zurück.
„Marcello, du bist vom Glockenturm gestürzt wie eine reife Pflaume vom Baum. Hast du Schmerzen? Wo tut es dir weh?“, flüsterte Armando dem Freund entsetzt zu. „Hättest du nicht warten können, bis die Truppe abgezogen ist?“
Marcello war benommen. Er setzte sich stöhnend auf und streckte seine Glieder.
„Mein Arm, der Oberschenkel, alles tut weh.“ Beunruhigt sahen Marcello und Armando, dass Piermarini mit seinem ganzen Tross auf sie zukam.
„Santo cielo, da scheint ja ein Engel vom Himmel gefallen zu sein! Meine Herren, schaut nur, das Antlitz des jungen Mannes gleicht fürwahr einem Bildnis von unserem berühmten Meister Sandro Botticelli. Unglaublich! Ganz unglaublich! Zum Glück scheint der Sturz glimpflich ausgegangen zu sein.“ Der Architekt sprach halb zu seiner Umgebung und halb zu sich. „Wenn wir hier beim Abriss der Kirche gleich einen Toten zu beklagen gehabt hätten … Wer weiß, unsere geistlichen Würdenträger würden darin sicher eine Bestätigung von Gottes Zorn sehen und noch mehr gegen die Oper intrigieren als ohnehin schon.“
Die Magister und Stadträte lachten verstohlen über Piermarinis Bemerkung.
„Filippo Moro, du sorgst dafür, dass man sich um diesen Jungen kümmert. Schaff ihn weg! Machen wir weiter, wir haben noch viel zu tun.“
So schnell wie der Architekt gekommen war, entfernten er und sein Tross sich wieder.
Filippo Moro rief nach Signora Cuccini. Sie eilte zu Marcello und säuberte routiniert mit einem feuchten Tuch die blutenden Schrammen in dessen Gesicht. „Hilf mit, Armando, wir müssen deinen Freund auf ein Brett legen. Ihr zwei da drüben könnt ruhig auch mit Hand anlegen. Sein Gesicht hat ja nicht viel abgekriegt, aber die Wunde an seinem Arm sieht wirklich böse aus. Man kann ja bis auf den Knochen sehen. Wir müssen den Schmutz ordentlich auswaschen.“
Armando versuchte den Anweisungen zu folgen. Vorsichtig begann Signora Cuccini Marcellos Hemd aufzuknöpfen, um die Wunde besser versorgen zu können. Sie fühlte unter ihrer Hand seinen schnellen Herzschlag. „Bringt mir endlich ein breites Brett! Wir können den Jungen hier nicht im Dreck liegen lassen!“ Als sie merkte, dass der Stoff des Hemdes in der Wunde klebte, riss sie beherzt das Hemd auf und zog es Marcello vorsichtig über dessen braune, muskulösen Schultern, um daraus dünne Streifen zu machen. „Armando, drück so fest du kannst das Tuch auf die Verletzung, damit wir die Blutung stillen können. Streck einmal dein Bein aus, Marcello. – Das klappt ja einigermaßen. Außer ein paar Prellungen, einer Fleischwunde und blauen Flecken scheint mir alles in Ordnung zu sein. Du hast mehr Glück als Verstand gehabt! Ein paar Tage Ruhe und du kannst wieder herumturnen“, ermunterte Signora Cuccini den stöhnenden Verletzten.
„Das hast du wirklich gut hingekriegt“, lächelte Armando erleichtert. „Ein paar Tage ausruhen, das möchte ich auch mal wieder. Jetzt müssen wir nur schauen, wie wir dich nach Hause bekommen. Der Architekt meint zwar, du schaust aus wie ein Engel, aber das mit dem Fliegen hat ja offensichtlich noch nicht so richtig geklappt.“