Читать книгу Die Schlangenmaske - Annabelle Tilly - Страница 21
16 Mailand, Casa Agnesi, Oktober 1776
ОглавлениеTiziana Piermarini eilte hinter der alten gebückten Magd her und wunderte sich über deren schnellen Schritt. Tiziana konnte ihr kaum folgen, da sie in dem weiten Reifrock darauf achtgeben musste, den schmalen Gang rechts und links nicht zu streifen. Sie war vollkommen falsch gekleidet. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Hätte sie nicht daran denken können, heute Morgen ein einfaches Hauskleid zu wählen? Sie sah aus wie eine aufgetakelte Adlige und nicht wie eine junge Frau, die helfen wollte.
„Signorina Piermarini, unsere Madre Maria Gaetana Agnesi ist in ihrem Refugium. Sie empfängt Euch gleich. Nehmt Platz, ich muss zurück zu meiner Arbeit.“ Das alte Weiblein lächelte Tiziana freundlich an und verschwand hinter einer der zahlreichen Türen, die den langen Flur säumten.
Tiziana hatte Herzklopfen. Hoffentlich war es kein Fehler, dass sie jetzt hier saß. Falls sie sich tatsächlich entschließen sollte, in der Casa Agnesi tätig zu werden, müsste sie sich erst an den penetranten Geruch gewöhnen, der in dem ganzen Haus steckte. Es roch nach saurer Milch, Schweiß und nasser Wäsche. Der Anblick der Alten und Siechen im lärmerfüllten Speisesaal, den Tiziana auf dem Weg hierher durchquerte, hatte sie entsetzt und angeekelt. Für eine Sekunde dachte sie daran, auf dem Absatz kehrtzumachen und zurück zu ihrer vor der Eingangspforte wartenden Kutsche zu fliehen. Einige der Insassen stießen Laute wie Tiere aus oder schrien plötzlich ohne jeden ersichtlichen Grund auf. Ein alter Mann hatte auf dem Boden in seinem eigenen Urin gelegen und wie wild um sich geschlagen. Eine Nonne beugte sich über ihn und musste ihre ganze Kraft aufbringen, um dem bedauernswerten Kranken einen mit Leder überzogenen Holzstab zwischen die Zähne zu schieben. Währenddessen schmiss ein junges, halb nacktes Weib, wüsteste Flüche ausstoßend, ihre Blechschüssel mit Brei gegen die Wand. Fassungslos hatte Tiziana gesehen, wie der Brei die Wand hinuntergetropft war.
Tiziana hatte gedacht, dass ihre Erlebnisse auf der Rückfahrt von Padua schlimm gewesen waren. Was sie hier im Speisesaal in den wenigen Augenblicken mit angesehen hatte, übertraf jenes Erlebnis jedoch bei Weitem. Auf derartige Eindrücke war sie nicht vorbereitet.
Plötzlich ging die Tür auf und Maria Gaetana Agnesi stand vor ihr.
Tiziana erhob sich.
Groß, schlank und anmutig stand die Nonne in ihrer schlichten Tracht da. Freundlich kam sie Tiziana entgegen und reichte ihr die Hand: „Tritt ein, mein Kind.“
Schüchtern machte Tiziana einen Knicks vor Maria Gaetana Agnesi und überreichte ihr das Empfehlungsschreiben ihrer Tante.
Nachdem Madre Maria Gaetana den Brief gelesen hatte, blickte sie strahlend auf und rief erfreut: „Du bist die Nichte meiner alten Freundin Rosabianca Piermarini? Ich hab sie schon länger nicht mehr gesehen, aber wir schreiben uns regelmäßig, wenn es die Zeit erlaubt. Wie geht es ihr?“
„Danke. Meiner Tante geht es gut. Ich soll Euch die herzlichsten Grüße ausrichten.“
Die Nonne musterte Tiziana liebevoll. „Und du willst also bei mir arbeiten? Hast du dir das auch gut überlegt? Es verlangt viel Menschenliebe und Kraft, an einem Ort wie diesem zu helfen. Ich weiß nicht, ob du auf das Elend und die menschlichen Abgründe vorbereitet bist, die dich hier erwarten werden. Einer jungen Dame aus bestem Hause wird so etwas normalerweise nicht zugemutet. Aber Gott der Allmächtige hat dich zu uns geschickt, und wenn es dein Wunsch ist, werde ich dir eine Arbeit zuweisen. Jede helfende Hand ist hier willkommen.“
Tiziana strich sich nervös über die Falten ihres Rockes. Sie wusste, wenn sie einen Rückzieher machen wollte, war jetzt der richtige Moment. Aber sie blieb stumm und nickte.
Als ob Madre Maria Gaetana ihre Gedanken hätte lesen können, sprach sie einfühlsam zu Tiziana: „Keine Sorge, mein liebes Kind. Wenn dich die Arbeit bei uns zu sehr belastet, kannst du jederzeit wieder aufhören. Ich glaube, ich habe eine passende Aufgabe für dich, mit der du hier sehr helfen würdest. Wir haben mehrere sterbenskranke Patienten, die unserer Pflege bedürfen. Wir tun, was wir können, und kümmern uns Tag und Nacht um sie. Deine Aufgabe wird sein, Verbände zu wechseln, die Kranken zu füttern, einfach bei ihnen zu sein und für sie zu beten. Komm, meine Tochter, folge mir zu dem Krankensaal.“
Maria Gaetana und Tiziana betraten ein großes Krankenzimmer, dessen Fenster leicht abgedunkelt war. Die stickige Luft, die nach Eiter, geronnenem Blut und Exkrementen roch, ließ Tiziana fast würgen. In dem Raum standen sieben Betten, dicht nebeneinander. Das Stöhnen und Wimmern der Kranken ging Tiziana durch Mark und Bein. Eine Nonne beugte sich gerade über eine der Patientinnen und löffelte ihr Suppe ein.
„Schwester Fausta, du darfst in deine Zelle gehen. Erhol dich ein wenig. Diese junge Signorina löst dich ab. Sie heißt Tiziana und wird uns, dem Herrn sei Dank, fortan bei der Pflege helfen.“
Die Nonne erhob sich dankbar und verließ den Raum.
Tiziana sah, wie selbstverständlich Madre Maria Gaetana zu der Patientin ging und ihr liebevoll den Mund abtupfte. Tiziana trat vorsichtig näher an das Bett heran. Sie erblickte eine junge, abgemagerte, totenbleiche Frau mit dunklen Ringen unter den geschlossenen Augen. Sie schien zu schlafen. Maria Gaetana Agnesi schaute Tiziana auffordernd an und gab ihr den Löffel mit den Worten: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“