Читать книгу Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung - Anne Goldbach - Страница 11
Rekategorisierung
ОглавлениеBezugnehmend auf eine Rekategorisierung wären im Begrifflichkeitsdiskurs zu dem Etikett ›Geistige Behinderung‹ hierunter Positionen zu verstehen, die es für notwendig und sinnhaft halten, alternative Begrifflichkeiten nicht nur zu diskutieren, sondern weiterzuentwickeln in Verbindung mit einer Flexibilisierung und Reformierung bisher tradierter Kategorien. Verbunden ist mit dem Anspruch der Rekategorisierung somit immer die kritische Prüfung im Sinne einer Kontextualisierung der Kategorien: Wo sind welche Kategorien und Begriffe verortet? Wer formuliert und prägt sie? Welchen Erkenntniswert bringen sie mit? Wo kennzeichnen sie »lediglich eine stigmatisierende Gruppierung« (Boger 2018, o. S.)?
Trotz Feusers o. g. Kritik findet sich mittlerweile in der Fachliteratur eine Vielzahl an differenten Begriffsalternativen (vgl. u. a. Kulig et al. 2006). Während Begriffszuschreibungen wie ›Menschen mit kognitiver, intellektueller oder mentaler Beeinträchtigung‹ oder ›Menschen mit seelischer Behinderung‹ noch stark in einem kategorialen Zusammenhang stehen, versuchen Begrifflichkeitsvorschläge wie ›Menschen mit besonderem Unterstützungs-, Assistenz bzw. Hilfebedarf‹ oder ›Menschen mit basalen Fähigkeiten‹ (etc.) weniger starr zu kategorisieren und eher auf zugeschriebene Bedürfnisse/Bedarfsbereiche oder auf mutmaßliche Fähigkeitsbereiche/Kompetenzen (statt auf konstitutive Merkmale oder Ursachenzuschreibungen) zu orientieren. Eine Bedarfs-/Bedürfnisorientierung ist auch im internationalen Sprachraum durch den übergreifenden Terminus ›special needs‹ zu beobachten21.
Alle Alternativvorschläge entsprechen nach wie vor einem sogenannten Behinderungsbegriff, welcher »eine von Kriterien abhängige Differenz und somit eine an verschiedene Kontexte gebundene Kategorie« verkörpert, »die eine Relation anzeigt« (Dederich 2009, 15). Damit ist grundsätzlich fraglich, ob sie eine bloße Umbenennung der Kategorie darstellen oder tatsächlich zumindest eine Relativität, eine Kontextsensibilität und/oder eine Flexibilisierung aufweisen und als Rekategorisierungsvorschlag diskutiert werden könnten.
Auch Selbst-/Interessensvertretungsorganisationen favorisieren in der Regel eine Umbenennung und lehnen den Terminus ›Geistige Behinderung‹ ab: Der von Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. favorisierte Begriff lautet ›Menschen mit Lernschwierigkeiten‹ (vgl. Kulig, Theunissen & Wüllenweber 2006), welcher sich mehr und mehr in politisch relevanten Feldern sowie in der Zusammenarbeit mit Selbst- und Interessenvertreterinnen* durchgesetzt hat, aber keineswegs allgemeinen Zuspruch genießt22.
Die Schweizer Interessensvertreterinnen*gruppe Mitsprache/Bildungsklub Pro Infirmis Zürich hat sich 2008 auf dem Symposium »Das Ende der ›geistigen Behinderung‹« positioniert: »Wir möchten nicht als geistig behindert bezeichnet werden«23 und schlägt vor dem Hintergrund umfassender Diskussionen den Begriff ›die An dersbegabten‹ vor (vgl. Weisser 2013). Dieser Vorschlag greift (indirekt) das von Speck und Thalhammer schon 1974 beschriebene konstitutive Merkmal des ›kognitiven Andersseins‹ auf und verdeutlicht, dass auch die Vorschläge von Selbstvertreterinnen* in der Regel (noch) auf einer Dichotomie von ›anders/abweichend‹ und ›normal‹ fußen24. Begriffsfassungen, die sich gezielt von einer Diskriminierung oder Beleidigung distanzieren wollen, polarisieren jedoch sehr, und ihnen wird eine Art der scheinheiligen Beschönigung vorgeworfen: Bei alternativen Bezeichnungen wie ›Menschen mit besonderen Bedürfnissen‹ oder ›andersfähige Menschen‹ besteht das hohe Risiko der Entstehung neuer Fehlannahmen und Projektionen: »Die Fähigkeiten und Bedürfnisse behinderter Menschen sind nicht ›besonders‹, sondern genauso vielfältig wie die nicht behinderter Menschen« (Leidmedien 2019, o.S.)25.