Читать книгу Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung - Anne Goldbach - Страница 8
Eine Einführung
ОглавлениеDieses Buch stellt den Versuch eines Einblicks in jene inhaltlichen Felder dar, welche eine sogenannte Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung rückblickend und gegenwärtig beeinflussen. Wir haben versucht, uns mit den aktuellen disziplinbezogenen, professionsbezogenen und institutionsbezogenen Fragen sowie Entwicklungen in verschiedenen Lebensbereichen mit Blick auf eine nach wie vor existente Pädagogik der Verbesonderung6 im Kontext sogenannter geistiger Behinderung aus unserer Perspektive zu beschäftigen und Ihnen/euch als Leserinnen* hierzu einen Einblick zu geben. Wir möchten mit dem hier vorliegenden Band sowohl theoretischen Diskursen als auch Forschungserkenntnissen und Praxisfeldentwicklungen einen Raum geben und diese in wechselseitiger Bezugnahme deskriptiv aufgreifen sowie referentiell hinterfragen. Die fachlichen Einflüsse und Entwicklungen einer Pädagogik im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung werden versuchsweise eklektizistisch und in schwerer (akademischer) Sprache zusammengetragen und sollen zu Austausch, Diskussion und Weiterentwicklung einladen.
Eine Pädagogik, welche einen Personenkreis adressiert, der als geistig behindert diagnostiziert ist, kann aus unserer Sicht und vor dem Hintergrund einer selbstkritischen Betrachtung nur eine Pädagogik der Verbesonderung sein. Da sich diese Pädagogik über das Mandat für eine als ›besonders‹7 stigmatisierte Personengruppe legitimiert, trägt sie in dilemmatisch-paradoxer Form zwangsläufig durch ihre Existenz auch zur Produktion und Reproduktion einer sogenannten Geistigen Behinderung bei. Sie markiert eine Gruppe von Menschen, »die eben auch durch diesen Status als Bezeichnete eine gesellschaftliche, institutionelle und bildungsmäßige Verbesonderung erfahren« (Musenberg & Riegert 2013, 152). Sie muss sich also bezüglich der eigenen Standortfrage damit konfrontieren, selbst eine Exklusionsmacht zu verkörpern, die ihre Ziele vermutlich in letzter Instanz nur durch die eigene Auflösung verwirklichen kann (vgl. Dederich 2017).
Im Selbstverständnis einer verbesondernden Pädagogik als Teildisziplin der Allgemeinen Pädagogik muss daher – quasi in einer Art Mindestanforderung – zwingend eine gesellschafts- und selbstkritische Orientierung implizit sein. Aus diesem Grund haben wir in diesem Buch auch inhaltliche Schwerpunktsetzungen gewählt, denen ein »kritischer Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse« (Dederich 2017, 28) innewohnt (u. a. soziologische Zugänge, die materialistische Behindertenpädagogik oder die Disability Studies) und welche sich im Theorierückgriff sowohl auf geisteswissenschaftliche Zugänge (z. B. phänomenologische Ansätze, humanistische Ansätze sowie dialektisch-hermeneutische Ansätze) als auch auf das sozialwissenschaftliche Paradigma (z. B. kritisch-rationale Ansätze, interaktionalistische Ansätze) berufen. Dieser Blick ist keineswegs neu8, aber er ist auch nicht selbstverständlich. Es gab ihn immer, es gibt ihn und es wird ihn geben müssen, solange von einer Mehrheitsgesellschaft eine Dominanzkultur (vgl. Rommelsbacher 2006) in Form von struktureller Diskriminierung ausgeht. Zudem kann ein gesellschaftsanalytischer und -kritischer Blick unermüdlich dazu beitragen, die »Konfliktlinien bei der Umsetzung von Inklusion« (Reich 2015, 30; Hervorhebung d. A.) entlang unterschiedlicher Differenzlinien in den Blick zu nehmen und reflexionsfähig zu machen9.
Somit ist das selbstkritische Verständnis einer Pädagogik der Verbesonderung auch immer durch die Synthese von pädagogischen und politischen Motiven10 gekennzeichnet: Menschenrechtsbasiertes pädagogisches Handeln ist immer auch notwendigerweise mit einer politischen Haltung verbunden und demzufolge auch als politisches Handeln zu verstehen. Die Sicherung und Ausgestaltung des Lebens- und Bildungsrechts von Menschen, die in unserer Gesellschaft als geistig behindert adressiert werden, impliziert im Speziellen die Reflexion verbesondernder Strukturen und Praktiken. Diese Reflexion ist daher Kernauftrag der Disziplinentwicklung selbst, deren Erkenntnisse aus Theoriebildung und Forschung folgend die Profession bereichern sollen.
Die drei Zugangswege: Disziplin – Profession – Institution11 kennzeichnen das strukturelle Vorgehen unserer Ausführungen. Mit den disziplin- und professionsbezogenen Fragen sollen Positionierungsfragen innerhalb der Fach- und Praxisdiskurse aufgegriffen und zur Diskussion gestellt werden; mit dem institutionsbezogenen Zugang versuchen wir, konstruktiv-kritische Einblicke in differente Lebensbereiche und handlungsbezogene (institutionelle und konzeptionelle) Praxisfelder zu geben. Diese Zugangsfelder werden in drei Teilkapiteln bearbeitet und jeweils am Ende mit einem zusammenfassenden, reflexiven Rückbezug auf die Kernfragen und Kernanliegen von Disziplin, Profession und Institution gerahmt.
»Disziplin und Profession stehen in einem diffizilen Verhältnis zueinander« (Moser & Sasse 2008, 18), weil sie unterschiedliche Interessen verfolgen: Die Disziplin folgt einem »Erkenntnisinteresse« und die Profession hat ein »Wirksamkeitsinteresse« (ebd., 18 in Ackermann 2013, 176). Was bedeutet dies für eine Pädagogik für Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung?
Folgt man Ackermann (2013), lässt sich eine eindeutige Differenzierung zwischen Disziplin (Erziehungs- und Bildungswissenschaft) und Profession (Pädagogik) für die allgemeine Pädagogik nachvollziehen; in der Sonderpädagogik taucht sie nicht auf. Hier wird hingegen eher von einer »enge[n] Verflechtung von Profession und Disziplin« (Willmann 2015, 420) und damit einhergehend von einer wechselseitigen Beeinflussung sowie der Bedeutung der Sonderpädagogik als »Vermittlerin« (vgl. Ackermann 2013) zwischen Disziplin und Profession gesprochen. Demzufolge fehlt eine klare Trennung der Entwicklung von Disziplin und Profession (auch) auf der Subebene der sogenannten Pädagogik im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung, die noch dadurch verstärkt wird, dass pädagogische Leitvorstellungen sich in der historischen Entwicklung weniger dem Gegenstand »Bildung als Möglichkeit« gewidmet haben – und damit anschlussfähig gewesen wären an die Bildungswissenschaft –, sondern den Leitvorstellungen von Förderung und Therapie verschrieben haben und damit eher die Bedingungen von Bildung, nicht jedoch ein Bildungsverständnis selbst, fokussierten (vgl. ebd.)12.
Hinzu kommt ein deutlich spürbarer Veränderungsdruck, welcher »das Selbstverständnis der Disziplin und der Profession« (Dederich 2017, 23) der Sonderpädagogik im Allgemeinen, deren Rolle im Rahmen des Inklusionsdiskurses und der Umsetzung von Inklusion immer wieder zur Diskussion stellt. Wie oben erwähnt, sollte also ein kritischer Blick auf die Pädagogik bei so genannter geistiger Behinderung integraler Bestandteil disziplin- und professionsbezogener Fragen sein, der jedoch nicht ganz widerspruchsfrei sein wird, weil:
1. die sogenannte Pädagogik für Menschen, die als geistig behindert adressiert werden, auf eine Genese als »Praxiswissenschaft« zurückblickt, welche sich »vornehmlich an den Herausforderungen der Profession entlang entwickelt hat und deren Status als Disziplin nach wie vor ein unsicherer ist« (Musenberg et al. 2015, 54);
2. Wechselwirkungen zwischen Profession und Disziplin z. B. durch die (Re)Produktion unterschiedlicher kategorialer Zuordnungsschemata erschwert sein können (vgl. Musenberg & Riegert 2013).
In Ermangelung der Möglichkeit, auf die tiefgreifenden Diskurse zu Professions- und Disziplinfragen der Sonderpädagogik im Allgemeinen einzugehen (hierzu sei u. a. auf Moser & Sasse 2008 sowie Laubenstein & Scheer 2017 verwiesen), möchten wir das jeweilige Verständnis hier auch nochmal aus einer subjektorientierten Perspektive13 umreißen:
In der Profession steht aus Sicht des Selbstvertreters Ross (2010) die Vermittlung von »Könnensachen« im Mittelpunkt: »Du sollst mit mir über wichtige Dinge reden, über Könnensachen. Sachen, die ich kann. Nicht über Sachen, die ich nicht kann. Und mich niemals anschreien« (210). Pädagoginnen* beschreibt Ross als »einen Professionellen, jemand, der eine Funktion hat, die mit Unterstützung oder Aufsicht bei Menschen mit Behinderung zusammenhängt« (211).
In der Disziplin sollte nach Ross eine Auseinandersetzung mit fachlichen Fragen und Einflüssen auf die Position der »Endverbraucher« im Mittelpunkt stehen: »Wir sind die Endverbraucher, die Pädagogik wird uns vorgestellt« (ebd., 208). Er kritisiert hier zu Recht, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten14 selbst an der Entwicklung der Disziplin nicht beteiligt waren und sich die sogenannten »fachlichen Grundlagen« der Disziplin ausschließlich über die betreffenden Hauptpersonen hinweg entwickelt haben. Er fordert sehr eindringlich, dass deren subjektive »Vorstellungen über die langfristigen ›outcomes‹« (209) in disziplin- und professionsbezogene Fragen einbezogen werden müssen15.
Ein aus unserer Sicht verbindendes Moment zwischen Profession und Disziplin liegt in dem Anspruch, dass sowohl Erkenntnis- als auch Wirksamkeitsinteressen mit dem Anspruch einer gesellschaftskritischen Haltung verbunden sein sollten: Sowohl als praktisch tätige(r) Pädagogin* als auch als (Fach)Vertreterin* einer (Sub)Disziplin sollte ein (Selbst)Verständnis (auch) darin bestehen, soziale (Macht)Verhältnisse zu erkennen, zu artikulieren und zu verändern (vgl. Kremsner 2019). Dies muss auf einer reflexionssensiblen Basis des eigenen Standpunktes und mit dialektisch-dialogischem Einbezug anderer Standpunkte – insbesondere auch jene Diagnose-erfahrener Personen – erfolgen.
Wir möchten also mit diesem Buch einladen zu einer Perspektive des Hinterfragens von scheinbaren Normalitäten und Hornscheidt und Oppenländer (2019) folgen, die fragen:
»Welche Normalitäten entstehen genau dadurch, wenn etwas nicht daraufhin befragbar scheint, dass es konstruiert ist – dass es getragen ist durch komplexe gesellschaftliche Strukturen und gewachsen über lange historische Zeiträume? Welche Gewalt wird durch diese unterhinterfragbar erscheinenden Normalitäten unkenntlich gemacht, dem Zugriff einer kritischen politischen16 Perspektive entzogen?« (23).
In diesem Sinne möchten wir Mut machen, »etablierte und vertraute terminologische, akademische, institutionelle und professionelle Demarkationslinien« (Dederich 2017, 23) zu hinterfragen und damit immer auch Diskurse über die Bedeutung von Profession und Disziplin sowie die institutionelle Praxis kritisch zu verfolgen und mitzugestalten. Und wir möchten mit diesem Handbuch die »Wahrnehmungs- und Wissenspraxen im Feld der Behinderung« (Dederich 2009, 19) mit spezifischem Blick auf die Zuweisung einer geistigen Behinderung ein klein wenig sichtbarer machen und reflektieren, welche Engräume und Freiräume – in akademischen und nicht-akademischen Feldern – (re)produziert werden und welche Limitationen und Chancen damit für die Begegnung und den Austausch von Menschen mit unterschiedlichen Biografien geschaffen werden.
6 Dieses Handbuch möchte Wegmarken einer aussondernden Pädagogik (Rückblick) über eine Pädagogik der Verbesonderung (Gegenwart) bis hin zu einer inklusiven allgemeinen Pädagogik (Perspektive) versuchsweise konstruktiv-kritisch nachzeichnen.
7 Wir möchten an dieser Stelle auf den Beitrag von Raul Krauthausen »Warum ich das Wort ›besonders‹ nicht mehr hören kann« von 2020 verweisen, der in prägnanter Form auf den Euphemismus von ›besonders‹ und ›speziell‹ hinweist: »Ich kenne keinen Menschen mit Behinderung, der sich mit ›besonderen Bedürfnissen‹ beschrieben hören will. Zum einen stimmt es nicht. Und zum anderen wirkt es bevormundend und von oben herab […]« (Hervorhebung i. O.): https://raul.de/leben-mit-behinderung/warum-ich-das-wort-besonders-nicht-mehr-hoeren-kann/ (14.03.2020).
8 Mit Verweis auf »Das Sisyphos-Prinzip« (vgl. Greving & Gröschke 2002) bleibt hier anzumerken, dass die »mühselige Arbeit der Reform« in Form von Fragen »nach den normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens« eine Schlüsselaufgabe unserer Disziplin war, ist und bleiben wird (7 f.).
9 Hierbei gilt es auch auf die kritische Erziehungswissenschaft zurückzugreifen, welche daran erinnert, dass Gesellschaft ein Zwangszusammenhang ist, der auch für Inklusion gilt (vgl. Bärmig 2015b).
10 Wir folgen damit u. a. Feuser (2013), der »gesellschafts-politisches Handeln« als Kernaufgabe von Pädagogik betrachtet, »was i. e. S. als pädagogische Aktionen zu bezeichnende Handlungen von Erziehung Bildung, Unterricht, Therapie, Assistenz u. v. m nicht ausschließt« (232).
11 Ein institutionsbezogener Zugang lässt sich nicht isoliert und auf einer vergleichbaren Ebene mit Fragen der Disziplin und der Profession betrachten. Ohne Zweifel kennzeichnet die Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung dennoch eine Institutionsentwicklung, welche maßgeblichen Einfluss auch auf die Entwicklung eines Selbstverständnisses der Disziplin und der Profession hat. Wir möchten aber im dritten Zugang nicht nur einen institutionsgeschichtlichen Blick vornehmen, sondern den Blick auch auf differente Lebensphasen und Lebensbereiche richten.
12 Näheres hierzu in Kapitel II, 3. und 4.
13 Wir zitieren hierzu Huw Ross, Vorstandsmitglied vom Verein Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V. (Berlin-Brandenburg).
14 Der Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten wird immer dann verwendet, wenn wir im Kontext von Selbst-/Interessenvertreterinnen*(bewegungen) schreiben.
15 Wir möchten hierzu auch auf Sierck und Mürner (1995) verweisen, die zu Recht kritisch anmerken, dass die Entwicklung der Disziplin der Heil- und Sonderpädagogik eine »Unternehmung von Nichtbehinderten ist«, die »ihrer Aussage nach von vielen Behinderten nicht gebraucht wird« (Ackermann & Dederich 2011, 10).
16 An dieser Stelle soll nochmal betont werden, dass mit ›kritisch-politischer Perspektive‹ der Anspruch einer gesellschaftskritischen Haltung gemeint ist (und nicht ein parteipolitisches Engagement im engeren Sinn).