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1.2 Frühe heilpädagogische Bemühungen
ОглавлениеVon den Idealen und dem Gedankengut der Aufklärung hinsichtlich der Forderung eines Bildungsrechtes für alle Kinder ausgehend, widmete sich eine Erziehungsbewegung des späten 18. Jahrhunderts – der Philanthropismus (griech: Philanthropen = Menschenfreunde) – erstmals Kindern mit ›Erziehungsschwierigkeiten‹. Der Philanthropismus beschäftigte sich als Lehre von den sogenannten ›Kinderfehlern‹ mit kindlichen ›Unarten‹ wie u. a. Eigensinn, Schreien, Bosheit, Habsucht, Neugier und Furcht. Diese ›Kinderfehler‹ standen der ›natürlichen Erziehung‹ im Sinne Rousseaus (1712–1778) im Wege. Sie sollten durch ›Pädagogische Heilkunde‹ gemindert werden (Bleidick 1999, 21). Die Hauptvertreter des Philanthropismus waren Ch. G. Salzmann (1744–1811), J. H. Campe (1746–1818) und P. Villaume (1746–1825). Frühzeitig haben die Vertreter der Kinderfehlerlehre allerdings auf die Unterscheidung von vermeintlich ›normalen Erziehungsfehlern‹ und organischen Beeinträchtigungen hingewiesen (vgl. ebd.) und die ›Störungen‹ den entsprechenden Professionen zugeordnet. So war V. E. Milde (1777–1853) darum bemüht, die Tätigkeiten bei den Erziehungsfehlern als »Sache des Erziehers« (ebd., 22) von den organischen Behinderungen als ärztliches Zuständigkeitsfeld abzugrenzen.
Parallel erfolgten im 18. Jahrhundert erste erfolgreiche Bildungsversuche von Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen. In Paris wurde 1770 die erste Taubstummenschule und 1784 die erste Blindenschule gegründet. Dadurch ermutigt, gelangten Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend Kinder mit sogenannter Geistesschwäche in das Interesse von Pädagogen (ebd.).
Erste bedeutende pädagogisch-soziale Anstöße gingen von J. H. Pestalozzi (1746–1827) aus. In seinem Werk »Anrufung der Menschlichkeit« appellierte er, sich auch den in der »niedrigsten Menschheit vergessenen Kindern« (Pestalozzi 1777 in Speck 2016, 19) und ihrer Erziehung zuzuwenden. In seiner Erziehungsanstalt auf dem Neuhof (1777/1778) nahm er neben verwaisten und verwahrlosten auch zwei Kinder mit einer sogenannten Geistesschwäche aus einem ›Tollhaus‹ auf und berichtete nachfolgend über den Erfolg seiner Erziehung. Seine Überzeugung, »dass auch Kinder von äußerstem Blödsinn, […] durch liebreiche Leitung zu einem ihrer Schwachheit angemessenen, einfachen Verdienst vom Elend eines eingesperrten Lebens errettet und zur Gewinnung ihres Unterhalts und zum Genuß eines freien und ungehemmten Lebens geführt werden können« (Pestalozzi 1778 in ebd., 20), war für die damalige Zeit unüblich und revolutionär.
Weitere erste Erziehungsversuche sogenannter geistesschwacher Kinder gingen von J. M. G. Itard (1774–1838), einem Taubstummenlehrer und Arzt in Paris, aus. Itard entwickelte bei einem Kind, Victor, das völlig verwahrlost im Wald aufgefunden wurde, nicht sprechen konnte und keine sozialen Regeln kannte, mit Hilfe systematischer pädagogischer Maßnahmen viele Fähigkeiten und einen hohen Grad an sozialer Anpassungsfähigkeit (vgl. ebd.). Itard hatte dafür fünf zentrale Bildungsziele formuliert, nach denen er Victor unterrichtete. Dazu gehörten durchaus modern anmutende Ziele und Methoden. So sollte Victor für das Leben in der Gemeinschaft gewonnen werden. Weiterhin sollten die Sensibilität seiner Nerven durch kräftige Stimulationen vergrößert und sein Gedankenkreis erweitert werden, indem er zunehmend mit der umgebenden Welt in Kontakt gebracht wurde. Durch Nachahmung und Einübung sollte er die Sprache lernen. Nach und nach sollten seine Geistestätigkeiten von seinen körperlichen Bedürfnissen ausgehend auf weitere Bildungsinhalte ausgedehnt werden (vgl. Itard 1801 in Möckel 1988). Victor machte dabei große Fortschritte und konnte schließlich mit Itard in Pariser Restaurants speisen (vgl. Speck 2016). Im Zuge seiner Erziehung von Victor entstand Itards methodischer Ansatz der physiologischen Erziehung, »[…] deren Basis die Erweckung der Sensibilisierung der Sinne durch starke Reize, also eine Sinnesschulung darstellte« (Mühl 1991, 11).
Ein anderer Pariser Arzt, E. Seguin (1812–1880), nahm diesen Ansatz auf und richtete ihn direkt auf die Erziehung damals als ›idiotisch‹ bezeichneter Kinder. Er hatte erkannt, dass die Sinnesschulung, die sogenannte sensualistische Methode, eine besondere Bedeutung bei der Entwicklung von geistigen Fähigkeiten, aber auch für die affektive und moralische Erziehung zu haben schien (Speck 2016). Seine Ideen systematischer Förderung formulierte er 1846 in einem ersten systematischen »Lehrbuch der Idiotenerziehung«. Seine Theorien setzte Seguin in der Pariser ›Irrenanstalt‹ Bicêtre und später an seiner eigenen ›Idiotenschule‹ in Paris praktisch um. 1850 emigrierte Seguin in die USA, weshalb sein physiologischer Ansatz für die deutsche Heilpädagogik unberücksichtigt blieb und erst wieder von M. Montessori aufgegriffen wurde (vgl. ebd.).