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Gründung von Hilfsschulen
ОглавлениеIn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zur Gründung von öffentlichen Hilfsschulen, was die Möglichkeiten für die Bildung von sogenannten ›geistesschwachen‹ Kindern zunächst erweiterte. So war in den Preußischen Bestimmungen bezüglich des Hilfsschulwesens 1859 über die »Erziehung und Unterricht der Blödsinnigen« formuliert, dass diese durch »sorgfältigste, physische und moralische Pflege, unter Anwendung geeigneter Hilfsmittel der Erziehung und des Unterrichts […] allmählich zu einigermaßen brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft heranzubilden« (Klink 1966 in Speck 2016, 26) sind.
Mit der Entwicklung und Ausdifferenzierung des Hilfsschulsystems kam es allerdings nachfolgend zu einer allmählichen Verdrängung der Kinder und Jugendlichen mit sogenannter ›Geistesschwäche‹ (ebd.). Unter dem Kriterium der sozialen Brauchbarkeit und wegen des Fehlens einer tragfähigen Bildungskonzeption für diesen Personenkreis wurde eine untere Grenze für die Aufnahme an Hilfsschulen formuliert, die das »Unternormale, welches wertlos ist« (Egenberger 1913 in ebd., 28), markieren sollte. Einige dieser Kinder und Jugendlichen wurden an ›Anstaltshilfsschulen‹ überwiesen oder konnten die sogenannten Sammel- oder Vorklassen, die an einigen Hilfsschulen angegliedert waren, besuchen (vgl. ebd.). Diese entstanden ab 1917 in Berlin und später auch in anderen deutschen Städten und Landkreisen. Sie wurden für sogenannte ›schwer schwachsinnige Kinder‹ eingerichtet. In Sammelklassen lernten höchstens 15 Schülerinnen* zusammen. Wesentliche Ziele waren nicht das Erlernen der Kulturtechniken, sondern die Herausbildung körperlicher Geschicklichkeit und die Pflege des Gemüts. Die Empfehlung zum Besuch einer solchen Sammelklasse wurde in der Regel nach einem zweijährigen Besuch der Hilfsschulunterstufe und auf der Grundlage eines besonderen pädagogischen oder psychiatrischen Urteils gegeben. Vom Besuch der Sammelklassen ausgeschlossen waren die sogenannten völlig ›bildungsunfähigen‹ und pflegebedürftigen Kinder (Lindmeier & Lindmeier 2002). Im Lehrbuch des Berliner Hilfsschulpädagogen A. Fuchs (1869–1945) befindet sich ein Lehrplan für Sammelklassen. Dieser zeigt, dass diese Klassen von ihrer Schülerinnen*schaft und den Unterrichtsinhalten und -methoden als Vorläufer der ›Schulen für Geistigbehinderte‹ angesehen werden können (vgl. ebd.).
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden allerdings auch die Sammelklassen mit der »Allgemeinen Anordnung über die Hilfsschule in Preußen« vom April 1938 für unzulässig und die in ihnen beschulten Kinder und Jugendlichen für ›bildungsunfähig‹ erklärt. Unter dem Druck eugenischer und rassenhygienischer Bestrebungen verteidigten Hilfsschulpädagogen den Erhalt von Sammelklassen kaum. Die Bildungsfähigkeit wurde damit allen Kindern mit ›Geistesschwäche‹ abgesprochen und noch einmal mehr an deren zukünftiger Arbeitsfähigkeit und Brauchbarkeit für die Gesellschaft festgemacht (ebd., 397).