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Zum Grundverständnis des Etiketts »Geistige Behinderung« – eine Annäherung von außen … Begrifflichkeitsdiskurse

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Versteht man das grundlegende Manko der Reflexion über das Themenfeld Behinderungserfahrung aus einer privilegierten Perspektive ohne selbige (vgl. Vorbemerkung) als ›Dilemma erster Ordnung‹, besteht ein ›Dilemma zweiter Ordnung‹ in folgendem Verständnis: Es bleibt ein Dilemma der Unauflösbarkeit, widmet man sich der Frage nach einer begrifflichen Fassung dessen, was in unserer Gesellschaft gegenwärtig mit dem Terminus ›geistig behindert‹ assoziiert wird.

»Ähnlich wie die Bildungstheorie oder die Kulturwissenschaften operiert auch die Geistigbehindertenpädagogik mit einem äußerst unscharfen Zentralbegriff, der aber dennoch oder gerade deswegen die disziplinäre Identität sichert« (Musenberg & Riegert 2013, 152; Hervorhebungen i. O.).

Feuser (2016) beschreibt die Suche nach Alternativen zu dieser begrifflichen Setzung von außen als »hilflose Suchbewegung« ohne nennenswerte Verbesserung im Sinne einer Auflösung von Diskreditierungen mit der Konsequenz der Hervorbringung neuer »Irrungen und Wirrungen und Verstrickungen in Widersprüche« (44). Er mahnt zu Recht kritisch an, dass es sich um »sprachliche Verrenkungen im Fach« handele, die den Versuch darstellen, diskriminierende Wirkungen zu mildern, aber auch eine kritische Selbstreflexion der ideologischen Grundlagen der Disziplin der so genannten Geistigbehindertenpädagogik verhindern. Auch Kobi (2000) sieht Re-Definitionen von Geistiger Behinderung als »eine um Positivierung bemühte Stimmungswelle im Mainstream gutmenschelnder Political und Pedagogical Correctness, um Vermischungen auch von Virtual und Social Reality und einen damit verbundenen Hang zu Wort- und Zeichenmagie« (73).

Gleichzeitig stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht die zentrale Aufgabe von Wissenschaft – und im Speziellen die Verantwortung von Wissenschaftlerinnen* (vgl. Ziemen 2002) – ist, Begrifflichkeits(be)deutungen (im Speziellen ihren eigenen Zentralbegriff – vgl. Hänsel & Schwager 2003) vor dem Hintergrund epochaler Erkenntnisse zu reflektieren und zu diskutieren. Demzufolge gleicht es einer Arroganz und Ignoranz, ›traditionelle Benennungen‹ nicht zur Disposition zu stellen und zur Kenntnis zu nehmen, dass so bezeichnete Personen diese Begrifflichkeit ablehnen und sie als stigmatisierend empfinden. Dies möchten wir als Autorinnen* betonen und dem von Prengel (2006) formulierten Anspruch an die mehrperspektivische Öffnung des Denkens appellieren, da nur so ein Aufdecken von Ambivalenzen, Widersprüchen und einem Facettenreichtum der betrachteten ›Untersuchungsgegenstände‹ – in diesem Fall = Begrifflichkeiten – Rechnung zu tragen ist17.

»Begriffe, insbesondere jedoch deren Bedeutung, sind denk- und handlungsleitende Instrumente, die letztlich als Mechanismen Macht- und Ohnmachtspole (zwischen denen sich Menschen bewegen) aufbauen, aufrechterhalten, manifestieren und entschärfen können. Innerhalb des sonder-, heil-, rehabilitations- oder behindertenpädagogischen Denkens ist solch ein Begriff der der ›geistigen Behinderung‹« (Ziemen 2002, 24; Hervorhebung d. A.).

Es handelt sich bei dem Terminus ›Geistige Behinderung‹ um eine nicht-selbstgewählte (begriffliche) Zuschreibung von aussen; eine Diagnose, die stets gravierende Konsequenzen für die Lebensgestaltung der so bezeichneten Menschen nach sich zieht. Eine solche Diagnose ist letztlich immer (auch) ein Ausdruck einer paternalistischen Herrschaftspraxis:

»Die Zuweisung einer geistigen Behinderung an einen Menschen [erweist sich; d. A.] als pure Herrschaft über diese Menschen, denen wir mit etwas, das wir uns selbst noch nicht fassen können – nämlich mit unserer Bewußtheit – eben das nicht Fassbare, ihr Bewußtsein, ihren Geist einfach absprechen« (Feuser 2000, 149).

Es bleibt zu hoffen, dass es zunehmend mehr Aufmerksamkeit gibt für »widerspenstiges Agieren, wie die kritische Betrachtung der eigenen Diagnose, die Ablehnung ›sich nicht so nennen zu lassen‹, das Einfordern von Respekt, das Annehmen oder Ablehnen von Hilfe oder einfach ein leises Bauchgefühl, dass mit dieser […] Diagnose doch das Wesentliche ungesagt bleibt, dass ich mehr bin oder anderes als das, was sie über mich sagen« (Boger 2015, 269; Hervorhebung d. A.). So lässt der Begriff ›Geistige Behinderung‹ genau genommen immer nur Rückschlüsse darauf zu, welche »Vorstellungen seine Benutzer mit ihm verbinden – und dies ist […] recht Unterschiedliches« (Bach 2001, 6).

Der Diskurs um den ›Problembegriff Geistige Behinderung‹ wurde von Greving & Gröschke schon 2000 in einer Herausgeberschaft sehr umfassend abgebildet, die aus unserer Sicht auch 20 Jahre später kaum an Aktualität verloren hat: »Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phantom. Ein interdisziplinärer Diskurs um einen Problembegriff«. Hier verweist Buschlinger (2000) auf den sprachlichen und faktischen Problemhintergrund der Begrifflichkeit:

»Er ist erstens deshalb so besonders anfällig für eine fehlgeleitete Weltkonstitution, weil er auf den Begriff des ›Geistes18‹ angewiesen ist. Und er ist zweitens deshalb besonders anfällig, weil viele Verwender des Begriffs die Menschen, die durch sie bezeichnet werden, nicht kennen. […] Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, warum einige Menschen die Rede von ›geistiger Behinderung‹ gänzlich ablehnen« (25; Hervorhebung i. O.).

Nun lassen sich aus unserer Sicht drei differente Positionen bzw. argumentative Stränge hinsichtlich eines Begrifflichkeitsdiskurses ausmachen:

Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung

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