Читать книгу Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung - Anne Goldbach - Страница 18
Gründung von ersten medizinisch und heilpädagogisch orientierten Institutionen
ОглавлениеDie Wurzeln der Heilpädagogik sind nach Kobi (2004) nicht primär in der Pädagogik zu suchen, sondern »im caritativen sowie im (sozial-)medizinischen Bereich« (ebd., 127). Die Pädagogen Georgens (1823–1886) und Deinhardt (1821–1880), die als Begründer der Heilpädagogik gelten und vom Gedankengut der Aufklärung und der Philanthropie getragen waren, bestimmten deren Standort 1861 als »Zwischengebiet zwischen Medizin und Pädagogik« (in Bleidick 1999, 77; vgl. auch Engbarth 2003).
Die Entstehung der Wissenschaftstheorie des Faches Heilpädagogik vollzog sich dabei über die Praxis: Erste unternommene Erziehungsversuche wurden bezüglich ihrer Verläufe, Bedingungen und Resultate reflektiert und Behandlungsmethoden entwickelt (vgl. Bleidick 1999; Möckel 2007).
Angeregt durch einen gesamtgesellschaftlichen Aufschwung der Wissenschaften gelangte Ende des 18. Jahrhundert die Erforschung der ›Geistesschwäche‹ in das Interesse von ärztlichen Wissenschaftlern. Während bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts über die Ursachen wenig bekannt war und eher magische Vorstellungen über deren Entstehung vorherrschten, wurde die ›Geistesschwäche‹ unter dem Einfluss der Aufklärung im Körper des ›Erkrankten‹ lokalisiert. Die wissenschaftliche Beschäftigung setzte in breiterem Umfang mit der Erforschung des Kretinismus ein. Dies bezeichnet aus heutiger Sicht eine Form von so genannter geistiger Behinderung, die aufgrund eines Schilddrüsenhormonmangels (Jodmangel) der Mutter und beim Kind zu dauerhaften Entwicklungsstörungen des Skelett- und Nervensystems führt. Jodmangel kam in den vergangenen Jahrhunderten häufig in den Tälern der Alpenländer vor.
So widmete sich der Schweizer Arzt J. J. Guggenbühl (1816–1863) intensiv dem Studium des Kretinismus und gründete 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken eine Heilanstalt für Kretinen und ›blödsinnige‹ Kinder, eine der ersten Einrichtungen, die mit wissenschaftlich-medizinischem und pädagogisch-therapeutischem Betreuungsansatz über die bis dahin üblichen konzeptionslosen ›Verwahranstalten‹ hinausging. Man versuchte, den Gesundheitszustand der Kinder durch diätische Ernährung und hygienische Maßnahmen zu beeinflussen und den Körper durch Bäder, Waschungen und Gymnastik zu stärken (vgl. Lindmeier & Lindmeier 2002).
F.-E. Fodere (1764–1835) war der erste Autor aus den Reihen der Kretinismusforscher, der über die Rolle von Erziehung publizierte. Auch für ihn bestand die Behandlung von Kretinismus in einer Kombination von physischer und moralischer Erziehung. Es wurden Diäten, Bäder, Friktionen (Abreibungen des Körpers), Pharmazeutika, hygienische Maßnahmen sowie gymnastische Übungen verordnet, die die »innere und äußere Sinnestätigkeit« fördern sollten (Gstach 2015, 286).
Es folgten parallel weitere Anstaltsgründungen. Diese ersten medizinisch-heilpädagogisch orientierten Institutionen waren Anstalten, die oft auf private Initiative zurückzuführen waren. Die Motive für ihre Gründungen waren unterschiedlich, zum einen waren sie eher medizinisch-psychiatrischer Art, aber auch pädagogisch-sozialer bzw. erzieherischer oder religiös-karitativer bzw. kirchlicher Art (vgl. ebd.). Die ersten Anstaltsgründer entstammten demzufolge ganz unterschiedlichen Berufsgruppen, es gehörten sowohl reformistisch denkende Ärzte und Pädagogen, aber auch Theologen dazu, denen es in erster Linie um die Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen ging (vgl. Speck 2016).
Kirchlich-caritative Institutionen, die sich Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten, waren beispielsweise die Rettungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Wildberg durch Pfarrer K. G. Haldenwang 1838, die Kretinenanstalt Ecksberg 1852 durch Pfarrer J. Probst, die Associationsanstalt Schönbrunn bei Dachau, die Wagnerschen Anstalten in Dillingen durch Pfarrer J. E. Wagner 1869 und die Ursberger Anstalten durch Pfarrer D. Ringeisen 1884 (vgl. ebd.). Diese wurden zwar in erster Linie vom christlichen Ethos getragen, sind aber zunehmend von pädagogischen sowie medizinischen Impulsen und Erkenntnissen beeinflusst worden (vgl. ebd.).
Gleichzeitig entstanden erste staatliche ›Idiotenanstalten‹, die sich nicht als reine Bewahranstalten verstanden wissen wollten. Einige dieser Anstalten gingen aus Initiativen von Taubstummenpädagogen, wie beispielsweise C. W. Saegert (1909–1879), hervor. Dieser nahm 1842 einen ersten sogenannten ›schwachsinnigen‹ Schüler mit an seinem Taubstummeninstitut auf (Möckel 1988). Saegert gründete 1858 die Heil- und Bildungsanstalt für ›Blödsinnige‹ in Berlin. In seiner Schrift »Die Heilung des Blödsinns auf intellektuellem Wege« 1845/46 beschrieb Saegert (1858 in Möckel 1988, 125) seine Methoden, die sich nicht wesentlich von denen Itards unterschieden. Später stellte Saegert seinen Schüler Ärzten und einem Vertreter der Schulverwaltung vor und berichtete über seine Erfolge: »[…] Der Knabe hat den Begriffe der Gleichheit und Ungleichheit, der Größe, er gibt durch Zeichen zu verstehen, wenn er etwas versteht, […]. Er versteht Fragen […]. Es ist unzweifelhaft, daß dieses Individuum, weit davon entfernt ist auf der Stufe eines Tieres zu stehen […]« (Saegert 1858 in ebd.).