Читать книгу Pflege von Menschen mit geistigen Behinderungen - Annelen Schulze Höing - Страница 47
2.2.1 Leistungen bei Pflegebedürftigkeit und Behinderung
ОглавлениеJeder der vorgestellten Bereiche (Module) nach § 14 SGB XI repräsentiert Probleme in der Selbstständigkeit. Die Lösung dieser Probleme erfordert »pflegerische Aufgaben und Hilfen, die entlang des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs […] bzw. der in den Modulen und Kriterien des Instruments angesprochenen Bedarfskonstellationen beschrieben werden können« (Wingenfeld und Büscher, 2017).
Diese pflegerischen Aufgaben und Hilfen sind nachfolgend in Anlehnung an § 14 SGB XI in der Bearbeitung von Wingenfeld (Wingenfeld und Büscher, 2017, S. 18 ff.) dargestellt. D. h. es wird die Frage beantwortet, welche Maßnahmen auf der Grundlage des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs »Pflege« ist. Eine leistungsrechtliche Zuordnung der einzelnen beschriebenen
Hilfen und Maßnahmen ist mit der Darstellung nicht verbunden.
Bereich 1: Mobilität
Hilfen
• bei Lagerungen und beim Transfer (Ganzkörper-, Teilkörperlagerung, Unterstützung beim
• Aufrichten, beim Ein- und Aussteigen aus dem Bett und beim Umsetzen in verschiedenen Situationen)
• beim Stehen, Gehen, Treppensteigen und bei der Fortbewegung im Rollstuhl
• beim Gebrauch von Hilfsmitteln
• bei der Durchführung von ärztlich/therapeutisch angeordneten Bewegungsübungen
• bei der außerhäuslichen Mobilität, zum Beispiel Begleitung bei Friedhofsbesuchen oder Spaziergängen. Angesprochen sind die bei den bisherigen niedrigschwelligen Angeboten angesiedelten Leistungen (jetzt: Angebote zur »Unterstützung im Alltag«)
Aufklärung, Beratung, Anleitung
• Aufklärung, Beratung, Anleitung des Pflegebedürftigen im Bereich der Mobilität
• Aufklärung, Beratung, Anleitung der pflegenden Angehörigen im Bereich der Mobilität
Zielgerichtete Ressourcenförderung
• Durchführung spezifischer Maßnahmen zur Förderung der Mobilität, bspw. zur Verbesserung von Körperkraft, Balance, Koordination, Beweglichkeit oder Ausdauer. Einschließlich Förderung der Motivation des Pflegebedürftigen zur Eigenaktivität im Bereich der Mobilität.
• Aufklärung, Beratung, Anleitung des Pflegebedürftigen zur Durchführung mobilitätsfördernder Maßnahmen.
Bereich 2: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
Hilfen
• zur besseren Orientierung, Deutungs- und Erinnerungshilfen in Form von Verbalisierungen zur Unterstützung der örtlichen, zeitlichen und situativen Orientierung, der Personenerkennung und des Erinnerns sowie in Form von Erläuterung von Wahrnehmungen und Sachverhalten/Informationen, einschließlich Begleitung bei Aktivitäten wie Nachrichtenschauen/-hören etc.
• beim Gebrauch von Hilfsmitteln zur Unterstützung von Wahrnehmung und Orientierung, wie körpernahe Hilfsmittel (Brille, Hörgerät), orientierungsfördernde Hilfsmittel (Kalender, Uhr, farbliche Kennzeichnung), Gegenstände in den Räumen
• bei der Kommunikation mit anderen Personen einschließlich der Nutzung von alternativen Kommunikationsmitteln (Tafel, Papier, Stift, Computer) und Anregung/Ermutigung zur Kommunikation und zur Beteiligung an Gruppenaktivitäten, zum Erzählen von Ereignissen/Beobachtungen, zum Verbalisieren von Wünschen/Ängsten
• Ansprache in Form von aktivem Interagieren mit dem Pflegebedürftigen (aktives Zuhören, Eingehen auf Aussagen/Wünsche/Äußerungen des Pflegebedürftigen)
• Präsenz wie Anwesenheit (»aktive Präsenz«) und Erreichbarkeit für den Pflegebedürftigen, um bei Bedarf Hilfe zu leisten, aber ohne konkrete Unterstützung zu leisten. Besonders bei kognitiv beeinträchtigten Menschen kann Präsenz in großem Umfang erforderlich sein, weil immer wieder unvorhersehbarer Bedarf auftritt.
Aufklärung, Beratung, Anleitung
• der pflegenden Angehörigen bei den oben genannten Maßnahmen
• der Pflegebedürftigen bei der Nutzung von technischen Mitteln und Hilfsmitteln
Zielgerichtete Ressourcenförderung
• biografieorientierte kognitive Förderung, Gedächtnistraining, Konzentrationsübungen/-spiele
Bereich 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
Umgebungsbezogene Maßnahmen
• Identifizierung und Veränderung von verhaltenswirksamen Umgebungsfaktoren
• Schaffung einer sicheren, bedürfnisgerechten Umgebung (Entfernung von Verletzungsquellen, Verfügbarkeit vertrauter Gegenstände usw.)
Unmittelbar verhaltensbezogene Maßnahmen
• Verhaltensbezogene Verbalisierungen wie auf Verhaltensweisen aufmerksam machen, motivieren, Alternativen anbieten, reflektieren etc.
• Einwirken auf aktuelle Verhaltensweisen, Maßnahmen zur Vermeidung von selbstverletzendem Verhalten, Schlichtung von Konflikten zwischen zwei bzw. mehreren Parteien, Förderung der Akzeptanz von Hilfsmitteln und Systemen (z. B. liegenden, ableitenden Systemen [Sonde, Stoma, Blasendauerkatheter], Inkontinenzmaterialien), Umgang mit Impulsivität.
• Entlastende Maßnahmen (z. B. Minderung von Ängsten, Motivation zur Verbalisierung negativer Empfindungen) und Kriseninterventionen
• Einzelbetreuung
Alltagsgestaltung
• Beratung zur Vermeidung von überfordernden Situationen
• Einbindung in Beschäftigungsangebote und andere Aktivitäten im Alltag (Musik hören, Bastelangebote, Spazierengehen, sonstige körperliche Betätigung)23
• Hinwirken auf einen regelmäßigen Schlaf-/Wachrhythmus, beispielsweise ruhige Schlafumgebung gewährleisten, nächtliche Störungen minimieren, Möglichkeiten der Entspannung bieten, Aufforderung zum Einhalten der Schlaf-/Wachphasen, Wecken zu bestimmter Uhrzeit.
• Nutzung von Maßnahmen zur Spannungsreduzierung (Entspannungsübungen)
• Förderung positiver Emotionen beispielsweise durch Unterstützung im Umgang mit Tieren (z. B. bei Antriebslosigkeit)
Aufklärung, Beratung, Anleitung der pflegenden Angehörigen
• mit dem Ziel der Entlastung
• mit dem Ziel der Kompetenzerweiterung
Bereich 4: Selbstversorgung
Hilfen im Bereich der Ernährung
• bei der Einnahme von Mahlzeiten/Getränken einschließlich Vorbereitung der Nahrung/Getränke, Aufstellung in greifbarer Nähe des Pflegebedürftigen,
• Anreichen der vorbereiteten Nahrung/Getränke im Bett/Stuhl.
• bei der Nahrungsaufnahme über eine Sonde
• bei speziellen Maßnahmen im Bereich der Ernährung wie der Durchführung einer verordneten Diät, medizinisch induzierte Gewichtszunahme durch hochkalorische Nahrung, Einhaltung einer Nahrungskarenz u. ä.
Hilfen im Bereich der Körperpflege
• bei der Durchführung der allgemeinen Körperpflege wie Ganzwaschung/Teilwaschung, im Bett/am Waschbecken, Duschen/Baden, Fußpflege, Körperpflege im Bereich des Kopfes, hygienischer Umgang mit den Augen, Nagelpflege, Intimpflege. Einschließlich Hautpflege mittels Cremes/Lotionen.
• bei der Intakthaltung der Schleimhaut und Haut
• bei der Mund- und Zahnpflege bzw. Prothesenpflege
Hilfen im Bereich der Ausscheidung
• beim Toilettengang (einschließlich Benutzung von Toilettenstuhl/Steckbecken/Urinflasche)
• bei der Hygiene im Intimbereich (z. B. Wechseln der Inkontinenzmaterialien, Waschen des Intimbereichs, sorgfältiges Abtrocknen des Intimbereichs) und beim hygienischen Umgang mit künstlichen Ausgängen wie z. B. Blasendauerkatheter, Colo-/Ileostoma; Unterstützung bei der Pflege der umliegenden Haut
• zur Förderung der Ausscheidung wie Zeit und Ruhe einräumen für die Entleerung des Darms, Privatsphäre wahren, darmaktivierende Massagen, Unterstützung durch ausreichende Trinkmenge, ausgewogene Mahlzeiten; Prävention der Bildung von Darmgasen und Förderung des Abgangs, Umgang mit regelmäßiger Diarrhö, Darmentleerung mittels Klistier, Einlauf etc., Maßnahmen zur Behebung einer Obstipation
• bei der regelmäßigen Blasenentleerung zur Vermeidung von Drang-, Stress- oder funktionaler Inkontinenz
Hilfen im Bereich des Sich-Kleidens
• beim An- und Auskleiden, Kleidungswechsel
Aufklärung, Beratung, Anleitung (umfasst hier auch den Gebrauch von Hilfsmitteln (Steckbecken, Urinflasche, Inkontinenzmaterialien etc.)
• Aufklärung, Beratung, Anleitung des Pflegebedürftigen im Bereich der Selbstversorgung
• Aufklärung, Beratung, Anleitung der pflegenden Angehörigen im Bereich Selbstversorgung
Zielgerichtete Ressourcenförderung
• gezieltes Training von Bewegungssequenzen aus dem Bereich der Selbstversorgung
• Anleitung der Angehörigen zum gezielten Training von Bewegungssequenzen aus dem Bereich der Selbstversorgung
• gezielte Übungen zur Verbesserung der Blasenkontinenz wie bspw. Übungen des Beckenbodens zum Erhalt bzw. zur Verbesserung der Harnkontinenz – unter Berücksichtigung des Expertenstandards »Förderung der Harnkontinenz in der Pflege«
Bereich: 5. Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die medizinische Behandlungspflege
Bereich: 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Hilfen
• zur Förderung eines regelmäßigen Schlaf-/Wachrhythmus durch Verbalisierung der Uhrzeit, Aufforderung zum Aufstehen/Schlafen, Anbieten von schlaffördernden Maßnahmen (Tee, warme Milch), beruhigende Rituale
• bei der Gestaltung des Tagesablaufs durch interne/externe Angebote (Gruppenaktivitäten)
• bei der zwischenmenschlichen Interaktion einschließlich der Unterstützung bei der Pflege von Kontakten außerhalb des direkten Umfelds und Motivierung des Pflegebedürftigen zur Nutzung von Gruppenaktivitäten, zur Intensivierung seiner zwischenmenschlichen Kontakte und von Kontakten außerhalb seines direkten Umfelds
• zur Integration von bedürfnisgerechter Beschäftigung in den Lebensalltag einschließlich Motivierung zur Teilnahme an Beschäftigungsangeboten (Musik, Bastelangebote in Pflegeeinrichtungen, Kirchengemeinde, Selbsthilfegruppe etc.)
• zur Durchführung zukunftsgerichteter Aktivitäten
Aufklärung, Beratung, Anleitung der pflegenden Angehörigen
• Aufklärung, Beratung, Anleitung der pflegenden Angehörigen hinsichtlich der Unterstützung des Pflegebedürftigen im Bereich der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Bereich: 7. Außerhäusliche Aktivitäten
»Das Modul 7 bzw. der siebte Bereich im neuen Begutachtungsverfahren ist der Bereich außerhäusliche Aktivitäten, die bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Begleitung beim Friedhofsbesuch oder – als Bestandteil anderer Leistungsansprüche – Besuch einer Einrichtung der Tages- oder Nachtpflege oder eines Tagesbetreuungsangebotes) nicht der Versorgung im Rahmen des SGB XI zuzuordnen sind« (Wingenfeld und Büscher, 2017, S. 24).
Bereich: 8. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte
Hilfen
• bei instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (Einkaufen, Kochen, Arbeiten im Haushalt verrichten, Umgang mit Geld, Umgang mit Behörden/Briefkorrespondenz)
• bei der Aufrechterhaltung einer geeigneten Lebensumgebung (Sauberkeit/Hygiene, Sicherheit, Funktionalität)
Aufklärung, Beratung, Anleitung der pflegenden Angehörigen
• Aufklärung, Beratung, Anleitung des Pflegebedürftigen bei der Nutzung von Dienstleistungen, beim Umgang mit Institutionen und beim Umgang mit Fragen finanzieller Angelegenheiten; keine Rechts-, Finanz- oder Steuerberatung
• Aufklärung, Beratung, Anleitung der Angehörigen bei der Nutzung von Dienstleistungen, beim Umgang mit Institutionen und beim Umgang mit finanziellen Angelegenheiten
Die Zusammenstellung der pflegerischen Hilfen und Maßnahmen in der Struktur der einzelnen Module auf der Basis des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zeigt, dass es auf der Ebene der Maßnahmen in hohem Maße Übereinstimmung zu dem gibt, was auch bei den Leistungen zur Teilhabe (insbesondere bei den Leistungen zur sozialen Teilhabe, dort den Assistenzleistungen) getan wird. Eine Unterscheidung scheint noch weniger möglich (Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS), 2019) als nach bisherigem Recht. Eine Unterscheidung danach, ob eine Maßnahme »befähigend«, also pädagogisch orientiert und damit der Eingliederungshilfe zuzuordnen ist, oder »kompensatorisch« bzw. »ersetzend« und damit der Pflege zuzuordnen ist, erscheint nach Lektüre dieser Liste wenig überzeugend. Denn auch die befähigenden Assistenzleistungen in der Eingliederungshilfe bestehen wie die Maßnahmen aktivierender Pflege aus Anleitung und Übung (§ 78 Abs. 2, Satz 3 SGB IX); beide Maßnahmen befinden sich damit auf dem qualitativ gleichen Niveau.
Eine begründbare Zuordnung einzelner Maßnahmen zu Leistungen bei Pflegebedürftigkeit oder Leistungen der Eingliederungshilfe scheint somit dann nicht möglich, wenn die Maßnahme selbst, also die konkrete Verrichtung bzw. die konkrete Tätigkeit betrachtet wird. Hier ist in der Tat kein Kriterium erkennbar, das die Zuordnung zu dem einen oder dem anderen Leistungssystem begründen könnte.
Dies ist jedoch auch nicht gefordert.
Denn zur Abgrenzung der jeweiligen Leistungen und deren Zuordnung zu einzelnen Leistungssystemen wird regelmäßig auf den gesetzlichen Rahmen und den Zweck der Maßnahme abgestellt (Mrozynski, 2019, § 21a Rn 27; Schindler, 2018; BSG, Urteil vom 25.01.2017). Letztlich, so auch die Diskussion in der Vertragskommission, kommt es für die Zuordnung einer bestimmten Maßnahme zu den Leistungssystemen der Eingliederungshilfe oder der Pflege neben dem gesetzlichen Rahmen auf die Zweckbestimmung der Maßnahme, damit auf die Intentionen der Beteiligten an.