Читать книгу Pflege von Menschen mit geistigen Behinderungen - Annelen Schulze Höing - Страница 52

3 Pflegerische und haftungsrechtliche Aspekte in der Betreuung von Menschen mit geistigen Behinderungen

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Der Anspruch von Menschen mit geistigen Behinderungen auf Pflegeleistungen ist im Sozialrecht verankert. Für Menschen mit Behinderungen ergeben sich, sofern sie in einer besonderen Wohnform leben, Ansprüche auf Pflegeleistungen, die durch die überwiegend pädagogisch ausgebildeten Mitarbeiter der Wohneinrichtung zu erbringen sind:

• Grundpflege (u. a. die fachgerechte Anwendung der gültigen internationalen Expertenstandards wie bspw. Sturz-, Dekubitus- und Kontrakturprophylxe sowie Förderung der Kontinenz und Mobilität)

• die sog. Einfachste Behandlungspflege (u. a. Medikamente verabreichen, Blutdruck messen, Kompressionsstrümpfe anlegen etc.), die auch von pädagogischen Fachkräften zu erbringen ist

Durch den sich zurzeit vollziehenden demografischen Wandel erfolgt eine stetige Zunahme des Anteils pflegebedürftiger Klienten. Infolgedessen sind pädagogische Mitarbeitende in ihren Einrichtungen schon heute mit wachsenden pflegerischen Anforderungen und auch mit einer Zunahme an Todesfällen konfrontiert.

In der Beratung, in Fortbildungen und bei pflegerischen Bedarfsanalysen in Einrichtungen der Behindertenhilfe hat die Autorin die Erfahrung gemacht, dass dem Bereich der Pflege oft nicht die gleiche Aufmerksamkeit und fachliche Anleitung gegeben wird wie der pädagogischen Betreuung. Wenn man Mitarbeiter in Behinderteneinrichtungen fragt, wie sie pflegerisch tätig sind, erhält man Antworten, die sich überwiegend auf das Ausführen ärztlicher Verordnungen beziehen. Ein häufig genanntes Beispiel ist hier die Vergabe von Medikamenten. Obwohl tagtäglich viele pflegerische Assistenzleistungen erbracht werden, kommt es nicht vor, dass berichtet wird: »Wir leiten zur Körper- und Hautpflege an, wir beugen Stürzen vor, fördern die Harnkontinenz, unterstützten die Mobilität und achten auf die Flüssigkeitszufuhr und Ernährung unserer Klienten«.

Neben den pädagogischen Kernaufgaben wird Pflege in Behinderteneinrichtungen häufig irgendwie mitgemacht, ohne dass hier direkt von Pflege gesprochen wird. Pädagogen sind häufig mit pflegerischen Situationen konfrontiert, ohne fachliche Anleitung zu erfahren. Die Pflege wird nach bestem Wissen und Gewissen ausgeführt. Dabei können aus Unwissenheit Fehler unterlaufen. Beispielsweise kann es passieren, dass gesundheitliche Risiken, wie die Entstehung von Dekubiti oder ein Flüssigkeitsdefizit, zu spät erkannt oder Pflegetätigkeiten, wie z. B. der Wechsel von Inkontinenzprodukten, nicht fachgerecht ausgeführt werden.

Diese Erfahrung hat die Autorin dazu veranlasst, gemeinsam mit dem Berliner Träger »Albert Schweitzer Stiftung – Wohnen & Betreuen« ein Instrument zur strukturierenden Pflegebedarfserhebung zu entwickeln und zu erproben. Dieses Instrument unterstützt Mitarbeitende darin, Aspekte der Pflege zu erkennen und herauszuarbeiten, um sie in der Teilhabeplanung (füher bezeichnet als Hilfeplanung) zu berücksichtigen. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; Kap. 1) wurde als Grundlage für den »Gesprächsleitfaden Pflegeerfassung®« ausgewählt, da die Teilhabeplanung in Deutschland grundsätzlich ICF-basiert erfolgt. Eine Übertragbarkeit auf andere Instrumente ist gegeben.

Der »Gesprächsleitfaden Pflegeerfassung®« eignet sich, um eine strukturierte Erfassung von pflegerischen Assistenzbedarfen im Rahmen der Teilhabeplanung vorzunehmen. Dies ist eine Voraussetzung, um die Pflege systematisch in die pädagogische Leistungspraxis zu integrieren. Neben pädagogischen Entwicklungs- und Stabilisierungszielen werden auch gesundheitsbezogene Erfordernisse über den »Gesprächsleitfaden Pflegeerfassung®« in die ganzheitliche Betrachung des Menschen aufgenommen.

Pflege schafft in vielen Fällen erst die Voraussetzung für Teilhabe und ist daher aus dem ganzheitlichen Betreuungssetting der Eingliederungshilfe nicht wegzudenken. Eine zunehmende Zahl von Klienten kann erst nach grundpflegerischer Assistenz und medizinischer Versorgung (z. B. Medikamentengabe) Alltagsaktivitäten in Angriff nehmen.

Unsere Anliegen ist es, über dieses Fachbuch das Bewusstsein für die Pflege in der Eingliederungshilfe zu fördern und pädagogische Fachkräfte darin zu bestärken, sich fortzubilden, um mehr Handlungssicherheit bei der Pflege von Menschen mit geistiger Behinderung zu erlangen. Der Pflegeempfänger muss darauf vertrauen können, dass die Hilfeleistung, die er empfängt, fachgerecht ausgeführt wird. Pflege ist eine anerkannte Wissenschaft und umfasst Pflegepraxis, Pflegetheorie und Pflegeforschung. Pflege ist eine Profession, die gelernt sein will, und obliegt ausgebildeten Alten- und Gesundheits- und Krankenpflegerinnen sowie ausgebildeten Pflegefachfrauen/Pflegefachmännern.

Die Besonderheit der »Pflege« von Menschen mit Behinderung liegt in dem Verständnis, dass sie nicht im üblichen Sinne »krank« sind, sondern zur Bewältigung ihres Alltags regelmäßig auf pflegerische Assistenzleistungen angewiesen sind. Deshalb konzentriert sich das Buch in erster Linie auf

• die vorbeugende Intervention zur Vermeidung von pflegerischen Risiken,

• die Aufklärung und Hilfe zur Selbsthilfe und

• auf Tätigkeiten, die auch von Mitarbeitern ausgeführt werden dürfen, die über keine pflegerische Ausbildung verfügen.

Das Verständnis von Pflege im Wandel der Zeit

Bevor Sie in die Pflegebedarfsanalysen und in die Planung und Dokumentation von Pflege eintauchen, wird Ihnen eine Vorstellung davon gegeben, wie sich das Verständnis von Pflege von 1860 bis heute entwickelt und verändert hat.

Pflege ist ein interaktiver Beziehungsprozess, verbunden mit der Auffassung von sorgender Obhut und Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens.

Erste Auffassungen von Pflege wurden von Florence Nightingale 1860 in ihren »Notes of Nursing« beschrieben und hatten fast ein Jahrhundert lang Bestand, bevor diese von verschiedenen Pflegetheoretikern weiterentwickelt wurden. In Bezug auf die Frage, was unter Pflege zu verstehen ist, vollzog sich die Theoriebildung im Zeitverlauf wie folgt (vgl. Pschyrembel, 2003, S. 490–491):

• Pflege zum Lindern von Schmerzen und Leiden (Nightingale, 1860)

• Pflege als Umgebungsgestaltung. Hier ist das Ziel die Förderung des Wiederherstellungsprozesses durch die pflegerische Sorge für die optimale Umgebung, d. h. Luft, Wasser, Licht, Reinheit, Ernährung, Wärme und Ruhe. Die Gesundung vollzieht der Mensch selbst (Nightingale, 1860).

• Pflege als Beziehung:

– Pflege vollzieht sich als signifikanter therapeutischer zwischenmenschlicher Prozess (Peplau, 1952)

– Pflege vollzieht sich als zwischenmenschlicher Dialog (Peplau, 1952)

• Pflege als tätige Handlung: Als Funktion der Hilfeleistung für den Einzelnen, ob krank oder gesund, als Durchführung von Handlungen, die der Mensch normalerweise selbst und ohne Unterstützung durchführen würde, wenn er über die nötige Kraft, den Willen und das Wissen verfügte. Ziel ist eine schnellstmögliche Unabhängigkeit des zu Pflegenden (Henderson, 1955; Orem, 1971).

• Pflege als Wissenschaft und Kunst (Pschyrembel, 2003, S. 490–491, zit. n. Rogers, 1963). Ziel ist eine umfassende wissenschaftliche Fundierung der Pflege, um dem Menschen als einmaliges Wesen in der Ausübung (Kunst) der Pflege besser gerecht zu werden.

Der International Council of Nurses (ICN26 ) definiert Pflege wie folgt:

»Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung, allein oder in Kooperation mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen aller Altersgruppen, von Familien oder Lebensgemeinschaften, sowie von Gruppen und sozialen Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Lebenssituationen (Settings). Pflege schließt die Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten und die Versorgung und Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen ein.«

Die heute geltende Definition von Pflege zeigt, dass es um Prävention zur Förderung der Gesundheit und um die Unterstützung bei der Versorgung geht.

Gesundheitsförderung, das aktive Handeln zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit, wird immer mehr zum zentralen Thema des Pflegeberufs. Sind die Maßnahmen zur Gesundheitsförderung ausgeschöpft, kann pflegerische Unterstützung, beginnend bei der Anleitung zum eigenen Tun bis hin zur vollständigen Übernahme, notwendig werden.

Pflege von Menschen mit geistigen Behinderungen

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