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Industrialisierung in Deutschland
ОглавлениеEnde des 18 Jhd., als England schon zu weiten Teilen industrialisiert ist, galt Deutschland noch als Agrarland, denn 85 % der Bevölkerung lebte auf dem Land. Das Handwerk ist bis dahin die noch vorherrschende Produktionsform (Staehle, 1999). Der Beginn der Industrialisierung Deutschlands wird mit den Jahren 1835–1845 angegeben.
Auch in Deutschland kamen verschiedenen begünstigende Entwicklungen zusammen (Staehle, 1999):
• Die Vereinheitlichung der Währung und der Wirtschaftspolitik sowie die Schaffung eines wirtschaftlichen Großraums (1834 tritt der Zusammenschluss der deutschen Bundesstaaten zum deutschen Zollverein in Kraft, 1866 wird der Norddeutsche Bund geschlossen, 1871 das Deutsche Reich gegründet).
• Niedrige Löhne und hohe Nachfrage durch Bevölkerungswachstum, durch Verbesserung der hygienischen Verhältnisse sowie der Ernährung und der Gesundheitsfürsorge. Die Sterblichkeitsrate sinkt, die Geburtenrate steigt. Während um 1800 herum ca. 23 Mio. Personen auf dem Territorium des Deutschen Reiches leben, sind es 1900 ca. 56 Mio.
• Einführung der Gewerbesteuer (ab 1866), Erleichterung der Kapitalbeschaffung durch die Rechtsform der Aktionsgesellschaft, Maßnahmen staatlicher Sozialpolitik zur Milderung sozialer Risiken (Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit).
• Ausbau der Verkehrswege und damit eine Erweiterung der Absatzmärkte und Erleichterung des überregionalen Handels. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes wird zum Rückgrat des Transportsystems und zum wichtigen Treiber für den Maschinenbau. 1840 umfasst das deutsche Eisenbahnnetz 420 km, 1860 bereits ca. 5875 km (Staehle, 1999).
Im Zuge besonderer Erfindungen und Entdeckungen haben sich im 19. Jhd. folgende Industriezweige herausgebildet (Staehle, 1999):
Wir befinden uns mit der Entstehung der ersten Organisationstheorien bereits in der Zeit der zweiten industriellen Revolution. Die erste Revolution bezieht sich auf die Erfindung der Dampfmaschine (1712) und die Mechanisierung der Textilindustrie ab ca. 1780 (s. o., Bauernhansl, 2014; Dombrowski & Wagner, 2014; Monostori, 2014; Sendler, 2013).
Die zweite industrielle Revolution (ab ca. 1870), beginnt mit der Einführung der arbeitsteiligen Massenproduktion nach dem Babbage-Prinzip (s. u.) und mit Hilfe elektrischer Energie. Die Energie trieb dabei nicht nur Maschinen an, sondern lieferte auch Energie für Beleuchtung, die es ermöglichte, nicht mehr nur in den hellen Stunden des Tages mit Tageslicht zu arbeiten, sondern »rund um die Uhr« (Pierenkemper, 2009). In dieser Zeit entwickelt sich die Lohnarbeit als dominante Form des Beschäftigungsverhältnisses.
Wie arbeiteten die Menschen vor der industriellen Revolution und vor der »Lohnarbeit«?
Vor der industriellen Revolution, zu Beginn des 19 Jahrhunderts, waren etwa drei Viertel aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig und jeweils ca. 15 % im Gewerbe und im Dienstleistungssektor (Schissler 1978, S. 72–74; Pierenkemper, 2009).
Betrachtet man die in der Landwirtschaft Beschäftigten, so arbeitete nur eine sehr geringe Anzahl als »leitendes Personal« (Gutsbeamte, Verwalter) und die wenigsten als sog. Lohnarbeiter. Auch sog. Vollbauern galten als Selbstständige, ebenso wie die Kleinbauern, die eine große Gruppe der in der Landwirtschaft Beschäftigten ausmachte (Pierenkemper, 2009). Der Landbesitz der Kleinbauern reichte oft nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Als Zuerwerb arbeiten sie deshalb in einem Dienstverhältnis als Eigenversorger oder als kontraktlich gebundene Arbeitskraft auf den Gütern oder bei den Vollbauern. Andere wiederum arbeiteten als Landhandwerker oder Heimgewerbetreibende in quasi selbstständiger Tätigkeit. Menschen, die kein Land besaßen, die sog. »Landlosen«, waren als Hilfskräfte (Deputatsempfänger, Dienstleute) in der Land- und Güterwirtschaft tätig, genauso wie das »Gesinde«, das gegen Kosten und Logis im Haushalt der Bauern oder der Gutsherren arbeitete (Pierenkemper, 2009). Es dominierten somit stark feudal geprägte Arbeitsformen (Pierenkemper, 2009).
Der gewerbliche Sektor bestand zu Beginn des 19 Jhd. aus handwerklichen Tätigkeiten (Wehler 1987). Die Gesellen blieben meist in einem traditionellen Arbeitsverhältnis, d. h. sie unterstanden der hausherrlichen Gewalt des Meisters sowie den Regelungen der jeweiligen Zünfte (z. B. dem Wanderzwang, wie man das heute noch von Zimmerleuten kennt). Kost und Logis stellten einen beachtlichen Teil ihrer Entlohnung dar (Pierenkemper, 2009).
Quasi-Selbstständige mit eigenen Produktionsmitteln, wie z. B. einem Spinnrad oder Webstuhl und weiteren Familienmitgliedern als Hilfskräften, arbeiteten zeitlich begrenzt für überörtlich tätige sog. Verleger. Diese Verleger waren die Auftraggebenden, die Geld und Material »vorlegten«.
Im damaligen »Dienstleistungssektor« waren z. B. Schiffer oder Fuhrleute tätig, die ihre Dienste unregelmäßig anboten, oder es waren Dienstboten beschäftigt, die als Diener, Köchinnen oder Kindermädchen ebenfalls Kost und Logis erhielten und keinen Barlohn.
So finden sich Lohnarbeiter/innen zu Beginn des 19 Jhd. lediglich in den ersten entstehenden Eisenhütten und den frühen Textilfabriken (Kocka 1990b; Pierenkemper, 2009).