Читать книгу The Sixth Birthday - Arnd Frenzel - Страница 6

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Der neue Tag ist bereits angebrochen, aber Alexa liegt noch im Bett. Sie schläft zwar nicht, trotzdem sind ihre Augen geschlossen. Heute ist ihr Geburtstag und das ist ein wirklich wichtiger Tag, denn sie erreicht endlich das langersehnte 16. Jahr. Eine Ewigkeit hat sie auf diesen Moment gewartet und ihre Freude spiegelt sich in ihren Gedanken wieder. Mal abgesehen vom 6. Geburtstag ist dieser Augenblick das Größte, was sie sich vorstellen kann. Nicht der Ehrentag selber hat für sie einen hohen Stellenwert, solche Dinge bedeuten hier nicht viel, aber sie kommt endlich in die nächste Klassenstufe und das ist unglaublich relevant.

Zehn Jahre ist es jetzt schon her, zehn Jahre ist sie inzwischen im Untergrund, versteckt in einer alten U-Bahn Station, direkt unterhalb einer riesigen Stadt, die sie noch nie gesehen hat. Ihre Eltern haben sie damals hier herunter gebracht oder besser, in die Obhut einiger Schleuser gegeben, die sich um diese Art von Menschen kümmern. Mittlerweile kann sie sich aber kaum noch an ihre Mutter oder ihren Vater erinnern, alles ist verblasst und viel zu lange her.

Schon kurz nach ihrer Geburt trat ein erstes Indiz auf, ihre Haare waren schwarz, was aber noch nichts zu bedeuten hatte. Diese Farbe trägt sie auch heute noch. Jeder hier in der Station hat dunkele Haare, das ist nichts Außergewöhnliches, nur ihre sind deutlich länger als die der anderen. Sie gehen bis zu den Schultern und sind teilweise sogar wellig.

Ihre wahre Geschichte entwickelte sich an ihrem sechsten Geburtstag, ihre Augen veränderten die Farbe und das normale Leben fand ein Ende. Anderen Kindern erging es ähnlich, aber es waren nicht sehr viele, nur jedes tausendste, egal ob Junge oder Mädchen, war betroffen. Daher nennt man den sechsten Geburtstag auch den »Tag der Wahrheit«.

An eines kann sich Alexa auch heute noch erinnern, an die Schreie ihrer Mutter, als die Augen ihrer Tochter lila wurden. Ab diesem Moment war Alexa nämlich kein Mensch mehr, sie wurde zu einer Ausgestoßenen, einer Andersartigen, einem Feind der Gesellschaft.

»Alexa«, schreit eine junge weibliche Stimme in ihrer Nähe und reißt sie aus ihren Gedanken. Sie öffnet die Augen und schaut aus ihrem Etagenbett hinunter. Ihre Freundin Dakota steht unten am Boden und blickt erwartungsvoll zu ihr hoch. Keine Lichtquelle erhellt das Zimmer, trotzdem können sich die beiden genau erkennen, eine Eigenschaft, die zur gleichen Zeit entstand, als die Augen sich verfärbten.

»Was ist denn Dakota?« Fragt sie sehr leise.

»Hast du nicht etwas vergessen? Du liegst hier gemütlich in deinem Bett und das an einem so wichtigen Tag.«

Missmutig legt sich Alexa wieder hin und schließt erneut ihre Augen. Eigentlich hat Dakota Recht, aber es ist noch Zeit und sie braucht diesen Moment für sich.

»Ich komme ja gleich«, murmelt sie vor sich hin und hofft dabei, dass ihre Freundin sich entfernt. Das Glück scheint wirklich auf ihrer Seite zu sein, denn es folgen keine weiteren Worte.

Nach der erneuten Einsamkeit steckt sie ihr Gesicht komplett in das Kissen und versucht sich zu konzentrieren. Wie es wohl dort oben ist? Außerhalb dieser riesigen Station, welche die Menschen hier früher gebaut und dann wieder verlassen haben. Jetzt ist es das Zuhause der Ausgestoßenen, eine Zuflucht, eigentlich sogar eine ganze Stadt. Alexa weiß gar nicht, wie viele hier unten Leben, aber es sind sicher über tausend. Die Altersspanne erstreckt sich von 6 bis weit über 40 und alles wurde in genaue Zeitphasen eingeteilt. Die Kleinsten gehen von 7 bis 11 in die erste Klasse, dort lernen sie lesen, schreiben und auch die ersten Grundlagen von Mathematik. Ab dem 11. Jahr bricht die zweite Klasse an, die vorigen Fächer laufen zwar weiter, aber es gesellt sich noch Geschichte hinzu. Hier teilen sich die Klassen dann teilweise schon auf, einige kommen in den Technikkurs, andere belegen Biologie und die Intelligentesten werden in Philosophie eingeteilt. Die Fähigsten landen aber in der Sportklasse und dort steht das Überleben an der Tagesordnung.

Natürlich war Alexa genau in diesem Kurs, etwas anderes konnte sie sich auch nicht vorstellen, denn nur die haben hinterher das Recht, die Station zu verlassen und Aufgaben außerhalb der Sicherheitszone auszuführen.

Mit 16 folgt dann die dritte Klasse und ab hier teilen sich die Schüler komplett auf. Jetzt werden sie fachspezifisch geschult und auf die kommenden Aufgaben vorbereitet, die normalerweise auch nicht lange auf sich warten lassen. Von Beginn an mischt sich das Praktische mit dem Theoretischen und das heißt für Alexa, sie darf endlich hinaus und sieht die reale Welt samt ihren ganzen Bewohnern.

Eines kann sie aber wirklich nicht verstehen, warum werden sie von den Menschen dort oben gehasst? So groß sind die Unterschiede zwischen ihnen nicht und doch fürchten sie die Andersartigen. Natürlich, die lilafarbigen Augen sind schon abgedreht, genau wie die Nachtsicht. Dann sind sie auch noch stärker, schneller und ausdauernder, aber das sind alles Eigenschaften, die sehr gut eingesetzt werden können. Das Volk dort oben, so sagt man hier unten, akzeptiert nichts, was anders ist. Es ist die Angst vor dem Unbekannten. Nur niemand in der Station hat wirklich böse Absichten, es gibt keine Verbrechen und alle Leben in Harmonie zusammen.

Alexa hofft natürlich, dass sie diese ganzen Infos bald aus erster Hand erfährt, denn alles, was bisher an ihre Ohren trat, waren Geschichten von anderen Stationsbewohnern. Den Rest hat sie in Büchern gelesen, die sie in unzähliger Menge konsumiert hat. Jetzt kommt sie endlich in die 3. Klasse und wird in die Geheimnisse der Menschen und der Ausgestoßenen eingeweiht. Ihre Aufregung ist grenzenlos, was wird sie wohl alles erleben, wann darf sie das erste Mal nach oben, wann…

»Alexa«, schreit Dakota erneut von unten, diesmal aber ein wenig genervter. Das Mädchen ist Alexas beste Freundin, sie ist erst 14 und für das Fach Biologie eingeteilt. Durch diese Wahl wird sie niemals in den Genuss kommen, die Oberwelt zu erblicken. Darüber ist sie aber nicht unglücklich, denn sie möchte das auch nicht. Gleichwohl ist sie sehr daran interessiert, wie es bei Alexa weiter geht und die springt mit einem Satz aus ihrem Bett und landet neben Dakota am Boden.

»Verdammt Alexa, kannst du das bitte mal lassen«, wird sie von ihrer Freundin angefaucht. Die lila Augen kommen dabei richtig gut zur Geltung, aber für die Bewohner hier unten ist das nichts Neues.

»Entschuldige meine Kleine, aber warum bist du eigentlich noch hier? Musst du nicht auch zum Unterricht?«

»Einer muss ja dafür sorgen, dass du pünktlich zu deiner ersten Stunde kommst, aber ich glaube, dafür ist es wohl zu spät, du wirst sicher Stress bekommen.«

Erst jetzt bemerkt Alexa, dass es wirklich extrem spät ist, die Schulstunde hat schon begonnen und sie kommt definitiv nicht mehr rechtzeitig an. Schnell wirft sie sich ihre Kleidung über und rennt zur Tür, wird aber noch einmal von Dakota gehalten.

»Sei besser vorsichtig Alexa, Aiden lauert dort draußen und verbreitet seine schlechte Laune.«

Die Mundwinkel von Alexa sinken nach unten, was ihr aber absolut nicht steht. Sie hat sehr feine Haut, eine kleine Nase und sieht für die meisten männlichen Bewohner umwerfend aus. Ihre Haare runden das Gesamtbild dann noch perfekt ab. Wäre sie keine Ausgestoßene, hätten sich ihr oben viele Wege aufgetan, aber davon weiß sie natürlich nichts und Jungen liegen außerhalb ihres Interessenbereichs.

»Verdammt Dakota, der hat mir gerade noch gefehlt«, sagt sie im rauen Ton. Aiden ist der selbst ernannte Frauenschwarm der Station, viele Mädchen sind in ihn verliebt, außer Dakota, die den Kerl einfach nur hasst. Das Dumme an diesem 20-Jährigen ist aber, dass er Interesse an Alexa hegt und das auch sehr offen zeigt. Seine durchgehende Angeberei ist dann noch die Krönung, denn er ist einer der wenigen Freigänger und demonstriert das jeden Tag aufs Neue.

»Am besten rennst du einfach zum Unterricht, schließlich bist du einer der Schnellsten hier unten. So hast du wenigstens eine Chance, ihm aus dem Weg zu gehen«, gibt Dakota ihr noch mit. Alexa öffnet die Tür und der Gang dahinter, der früher mal ein Tunnel für die Bahn darstellte, ist völlig leer. An beiden Seiten befinden sich unzählige Türen, die jeweils in andere Schlafräume führen. Diese Behausungen sind alle gleich aufgebaut, immer 2 Stockbetten für 4 Personen, ein abgegrenzter Bereich mit Waschbecken und Toilette und in einer Ecke noch Metallspinde für die wenigen Habseligkeiten. Für Ordnung und Sauberkeit ist jeder selbst verantwortlich, denn Putzfrauen gibt es natürlich nicht.

Voller Hoffnung atmet Alexa einmal durch und rennt anschließend los. Sie ist wirklich außergewöhnlich schnell, sogar für die Verhältnisse hier unten und die Türen fliegen nur so an ihr vorbei. Daher dauert es nicht lange und sie erreicht die nächste Sektion. Hier befinden sich die Küchen und die Essenssäle, aber zum Frühstücken bleibt natürlich keine Zeit, denn Eile ist angesagt. Die nächste Ecke wird passiert, dort stößt sie beinahe mit einem älteren Bewohner zusammen, weicht dem aber noch geschickt aus und wird kurz darauf mit einem festen Griff gehalten.

Die unerwünschte Pause und der darauffolgende Schmerz sind nebensächlich, denn Alexa schaut direkt in das Gesicht von Aiden, der sich ein Lachen nicht verkneifen kann.

»Alexa meine Liebe«, sagt er sehr belustigt. »Hast du im Unterricht nicht aufgepasst? Hier ist das Rennen rigoros verboten.«

»Kannst du mich bitte loslassen Aiden? Ich habe es wirklich eilig.«

Der Griff löst sich aber nicht und die Stärke ist überwältigend, wieder eine Sache, mit der täglich angegeben wird.

»Kann es vielleicht sein, dass du zu spät bist? Irgendwie kann ich das nicht verstehen, wie hast du nur die Spezifikation überstanden? Du bist total unzuverlässig und deine Schnelligkeit kann dich auch nicht retten.«

»Aiden, bitte. Ich muss weiter und das geht dich auch nichts an.«

»Deine Worte lassen echt zu wünschen übrig Alexa, aber viel Spaß gleich im Unterricht. Wir sehen uns ja jetzt öfters, schließlich sind wir in der gleichen Truppe. Es sei denn, David schmeißt dich heute noch raus.«

Nach seinen Worten fängt er abartig an zu lachen, die nächste Eigenschaft, die Alexa an ihm hasst. Es gibt faktisch nichts, was sie an ihm leiden mag, nur dummerweise hat er recht. Zu spät kommen geht nicht, vor allem nicht, wenn man zu einem Kundschafter ausgebildet werden möchte.

Sie reißt sich endlich los und setzt zum erneuten Spurt an, aber Aiden greift ein weiteres Mal zu und erhascht wiederholt ihre Aufmerksamkeit. Als Nächstes folgt eine Annäherung seines Kopfes und es sieht tatsächlich so aus, als ob er sie küssen möchte. Dadurch schreckt Alexa leicht zurück und verzieht angewidert das Gesicht.

»Eins noch kleines Mädchen, glaub nicht alles, was du in den nächsten Tagen erfährst. Vieles davon ist gelogen, bei wichtigen Fragen kommst du einfach zu mir, verstanden?«

Einen kurzen Augenblick schauen sich die beiden an, dann lässt Aiden sie endgültig los und ist in der nächsten Sekunde verschwunden.

»Wie war das noch mal mit dem Rennen du Spinner«, schreit Alexa ihm hinterher, ohne auch nur einen Moment über das Gesagte nachzudenken. Anschließend macht sie sich selber auf und erreicht endlich den Raum der 3. Klasse. Ein Blick durch das Türfenster lässt sie erstarren, alle Schüler sitzen schon auf ihren Plätzen und der Lehrer, es ist wirklich David, steht vorne und redet. Das gibt Ärger…

The Sixth Birthday

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