Читать книгу Berliner Miniaturen - Attila Schauschitz - Страница 12
ОглавлениеMarkus Lüpertz
Das Urteil des Paris, 2002
Kurfürstendamm/Joachimstaler Straße
Ewige Suche
Durch sein Schicksal sei »Berlin dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein«, heißt es im berühmten Schlusswort des Buchs »Berlin – ein Stadtschicksal« von Karl Scheffler aus dem Jahre 1910. Da Scheffler vom für Berlin typischen Gesetz, der erzwungenen, künstlichen Stadtentwicklung, ausging, erwies sich seine tiefe und gnadenlose Analyse gleichsam als visionär. Die Tendenz, aus Berlin auch nach dem Verschwinden der preußischen Herrscher etwas Neues und Besseres machen zu wollen, ist geblieben: in den Dreißigern Reichshauptstadt, in den Sechzigern soziale Wohnsiedlung, in den Neunzigern Metropole. Doch in all diesen Perioden fiel niemandem auf, übrigens auch Scheffler nicht, dass die einzig gültige Daseinsform der Stadt bereits vor der Jahrhundertwende zustande gekommen war. Jenes mitteleuropäische Großstadtmodell wird seitdem gestückelt und geflickt, meistens falsch, wenn auch in bester Absicht.
In jeder dieser Epochen wurde auch das Ku̕damm-Eck neu erfunden, zuletzt im Zeichen des modernen Monumentalismus. Der runde violette Steinblock des Swissotels erinnert mit seiner Höhenstaffelung etwa an eine Festung, das hellgraue Concorde Hotel von Jan Kleihues daneben erhebt sich zu einer Burg, einer Pyramide. Ernste, schöne, überzeugende, Respekt verlangende und bedrohlich massive Gebäude.
Das Ku’Damm-Eck wirkt wie ein architektonisches Pendant zum Potsdamer Platz. Auf die Türme aus Stein ist auch hier eine bläulich glitzernde Glas- und Stahlkonstruktion von Helmut Jahn die Antwort: dort das schwebende Sony Center, hier ein luftig schillerndes Bürohaus.
Zwischen ihnen, an der Stelle des Café Kranzler, stand ehedem ein prunkvoller Mietspalast mit dem Café des Westens, dem ersten bedeutenden Künstlercafé Berlins. Die Wegbereiter der Frauenemanzipation, Töchter aus dem jüdischen Bürgertum, traten Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Intimität der Salons in die Öffentlichkeit der Cafés. »Ich bin nun zwei Abende nicht im Café gewesen, ich fühle mich etwas unwohl am Herzen«, notierte die Lyrikerin Else Lasker-Schüler im Jahre 1910. Jahrelang, von Mittag bis spät in der Nacht, wohnte sie dort mit ihrem Mann Herwarth Walden und ihrem – laut Zeitgenossen extrem verzogenen – kleinen Sohn Paulchen. In der dichten Atmosphäre des Cafés gründeten sie den Sturm, eine expressionistische Zeitschrift, die das deutsche Kunstleben revolutionierte. Der Ort versank in die Bedeutungslosigkeit an dem Tag, als Else Lasker-Schüler und ihre Gefährten für immer aufhörten, ihn ein weiteres Mal zu betreten – wegen einer Bemerkung des Besitzers über das gegen Null tendierende Volumen ihrer Bestellungen.
Die von unten betrachtet kleinen, sonst sechs Meter großen Gestalten, die sich oben auf dem geschwungenen Fassadenvorbau des Swissotels gruppieren, sind, abgesehen von einem runden Hintern, mit bloßem Auge nicht leicht auszumachen. Rechts von ihnen, zur anderen Straßenweite gewandt, steht eine weitere Figur. Stellt man Nachforschungen an, erfährt man, dass sich dort – dank Markus Lüpertz – die Aluminium-Skulpturen von Hera, Athene und Aphrodite umarmen, eher wie Freundinnen als Rivalinnen. Sie warten gerade und vermutlich noch lange darauf, dass Paris von der anderen Seite kommend der Schönsten von ihnen einen Apfel überreichen würde. Ihre Idylle wird von einer weiteren Dekoration des Gebäudes, einer riesigen Lichtreklame, kontrastiert und gestört.